Die absurden Miethöhen und Immobilienpreise in vielen deutschen Städten haben die Diskussion über alternative Wohnorte befeuert. Zahlreiche Bewohner von Großstädten weichen in deren Speckgürtel aus, lockern also die Verbindung zur Stadt nur etwas. Spannender ist der Umzug aufs veritable Land, insbesondere in Dörfer. Daher sei nachfolgend der Versuch einer Gegenüberstellung einiger Vorzüge und Nachteile des Stadt- und Dorflebens unternommen.
Eine solche Untersuchung tritt mit schwerem Gepäck an, da Illustre bereits zu eindeutigen, wenn auch gegensätzlichen Ergebnissen gekommen sind. Karl Marx sprach unverblümt von der „Idiotie des Landlebens“, während Arno Schmidt die letzten 20 Jahre seines Daseins gern in Bargfeld verbrachte, einem Dorf in der Lüneburger Heide. Für Charles Baudelaire war Paris „der Mittelpunkt, von dem die allgemeine Dummheit ausstrahlt“, und Thomas Bernhard verortete in der Stadt pauschal „Stumpfsinn“. Woody Allen liebt dagegen bekanntlich New York. Aber mit derlei zudem widersprüchlichen Schlagwörtern ist es nicht getan, die Realität ist wie so oft komplexer.
Es ist eine Binse, dass Jobs überwiegend in den Städten zur Verfügung stehen, zumal auf dem Land mit seltenen Ausnahmen nur Kleinunternehmen existieren. Dies führt häufig zu Berufspendeln mit den bekannten Nachteilen bezüglich der zeitlichen Belastung und – sofern dabei das Auto genutzt wird – der Umwelt. Allerdings dürfte davon auszugehen sein, dass das Home Office, das sich auch auf dem Land befinden kann, größere Bedeutung gewinnen wird als vor der Pandemie.
Kulturschaffende, die auf Kollektive wie Orchester angewiesen sind und dabei ein gewisses Niveau erreichen wollen, werden es vorziehen, in einer Stadt zu wohnen. Wer dagegen allein arbeiten kann, etwa als freier Journalist, Schriftsteller, Maler oder Bildhauer, kann beruhigt auf dem Land leben, zumal – anders als noch zu Zeiten des Arno Schmidt – das Internet mit seinen guten Seiten (Information, Möglichkeit der Online-Beschaffung von Büchern und Sonstigem) auch dort fast überall verfügbar ist.
Wer nur passiv am Kulturleben teilnimmt und zu diesem Zweck regelmäßig Theater oder Konzerte besucht, ist auf dem Land eindeutig im Nachteil, zumal die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ihren Bildungsauftrag kaum noch erfüllen. Zwar gibt es in nahe gelegenen Kleinstädten immer wieder kulturelle Veranstaltungen, ihre Qualität unterschreitet aber regelmäßig das in den größeren Städten Gebotene. Das herrliche Schleswig-Holstein Festival ist eine der seltenen Ausnahmen und überdies auf den Sommer begrenzt.
Das Land punktet jedoch mit Naturerlebnissen. Während man in den Städten für Ausflüge in Wald und Flur häufig zunächst Verkehrsmittel bemühen muss, können Exkursionen durch die Natur auf dem Land zumeist zuhause begonnen werden. Schwimmen, Ruder-, Paddel- oder Segelpartien und Angeln kommen hinzu, wenn Gewässer in der Nähe sind, wie es etwa in der holsteinischen Schweiz mit ihren 200 Seen der Fall ist. Verbringen Kinder ihre ersten Lebensjahre auf dem Land, gewinnen sie eine Verbindung zur Natur, die ihr ganzes Leben positiv prägt.
Erreichen Abkömmlinge jedoch ein gewisses Alter, wird das elterliche Auto zum häufig beanspruchten Taxi – und ein Auto braucht man wegen der auf dem Land regelmäßig schwachen Infrastruktur weit mehr als in der Stadt. Der nächste Bahnhof ist häufig zumindest einige Kilometer entfernt, Busse fahren – wenn überhaupt – nur selten, Supermärkte befinden sich zumeist auch in einiger Entfernung, und Dorfgasthöfe sind selten geworden. Immerhin ist die in den Städten übliche Angeberei mit großen Luxusfahrzeugen zum Glück noch die Ausnahme.
Das ländliche Autofahren ist ruhiger und bedächtiger, ja zögerlicher als in den Städten. Auch neigt der Landbewohner dazu, selbst die absurdesten Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht nur einzuhalten, sondern das erlaubte Tempo sogar deutlich zu unterschreiten – und gelegentlich empört zu reagieren, wenn er überholt wird. Aber an all das passt sich der ehemalige Städter früher oder später an und genießt die verbreitete Bereitschaft ländlicher Autofahrer zur Rücksichtnahme auf andere – eine Eigenschaft, die in den Städten selten geworden ist. Schließlich ist Radeln auf dem Lande eine Freude, zumal dort anders als in den Städten keine Abgase, Feinstaub und andauernde Ampeln stören.
Reichtum und wohl auch klassische Bildung sind auf dem Land insgesamt seltener als in der Stadt. Mehr als ausgeglichen wird letzteres allerdings durch Herzensbildung und eine daraus resultierende Hilfsbereitschaft, die den vor allem nebeneinander her lebenden Ichlingen der Städte zunehmend abgeht. Jedoch gibt es wie überall auch auf dem Land Denunzianten und Verschwörungstheoretiker, ebenso – ganz überwiegend ältere – Zeitgenossen äußerst rechter Gesinnung, die typischerweise weitgehend frei von Empathie sind. Kuriosum: Zu früheren Zeiten existierten in manchem Dorf ganze Familienstämme, deren Mitglieder grundsätzlich nicht miteinander redeten – bis niemand mehr wusste, warum das so war.
Ein gewisser Teil der Dorfbevölkerung pflegt engere soziale Kontakte allenfalls zu den unmittelbaren Nachbarn; eine Integration in das Dorfleben setzt dagegen weitergehende Aktivitäten voraus, etwa die Mithilfe bei der Pflege der Straßen und Wege und bei der Durchführung von Festen, beispielsweise der Feuerwehr, und die Unterstützung eines etwa noch bestehenden Dorfgasthofs. Daran nehmen viele teil, und es sind zumeist die, unter denen man Freunde suchen sollte. Überreiche, die im Dorf nur einen selten genutzten Zweitwohnsitz unterhalten, was seit der Finanzkrise 2008 in attraktiven Gegenden häufig geworden ist, fügen sich nur selten in die jeweilige Bevölkerung ein; sie bleiben buchstäblich Fremdkörper.
Aber auch im Übrigen machen sich städtische Untugenden zunehmend auch auf dem Lande breit. Die Bereitschaft, ehrenamtlich aktiv zu werden, etwa bei der Feuerwehr, nimmt ebenso ab wie die dörfliche „soziale Kontrolle“, die wegen der Nähe der Beteiligten lange Zeit bewirkte, dass inakzeptable Verhaltensweisen wie rücksichtsloses Gewinnstreben oder Betrügereien untereinander kaum zu beklagen waren. Auch darf man nur wenig hoffen, in einem solchen Fall von anderen Dorfbewohnern Unterstützung gegen schwarze Schafe zu erhalten: Jeder kennt jeden, und man hält sich gern raus. Anders verhält es sich, wenn größere Vorhaben umstritten sind, etwa die Errichtung eines dörflichen Funkmastes oder Friedwaldes. Dann schlagen die Fraktionen ungehemmt aufeinander ein. Trotz alledem: Gemeinsinn ist auf dem Land noch verbreiteter als in den Städten, wo Individualismus und Konkurrenzdenken stärker ausgeprägt sind.
In die Gemeinschaft integrierte Alte, die den Umzug in ein Heim so lange wie möglich vermeiden wollen, sind denn auch im Dorf noch immer besser aufgehoben als in der Stadt, auch wenn die Einkaufsmöglichkeiten einige Kilometer entfernt sind; sie sind weniger einsam und ihnen wird zuverlässig geholfen – häufig durch ebenfalls Bejahrte, die nach der jahrzehntelangen Stadtflucht der Jüngeren regelmäßig die große Mehrheit der Dorfbewohner darstellen.
Insgesamt ist das Leben auf dem Land mittlerweile – und dazu trägt die Verbindung zur Welt durch das Internet bei – attraktiver, als mancher eingefleischte Städter sich das wohl vorstellen kann. Wer gut mit sich und anderen zurechtkommt, jederzeit zu tun hat und nicht andauernd Ablenkungen braucht, ist auf dem Land gut aufgehoben. Die Ideallösung dürfte darin bestehen, die warme Jahreszeit auf dem Land und die unwirtlichen Monate, insbesondere im Spätherbst und Winter, in der Stadt zu verbringen, aber das passt wenig zum Berufsleben, und nachher kann sich das nun einmal kaum jemand leisten. Dies umso mehr, als die Immobilienpreise und Mieten in den attraktiven Dörfern inzwischen (bei gleichzeitiger starker Verminderung des Angebots) ebenfalls erheblich zugelegt haben – zumindest in der holsteinischen Schweiz, deren Gegebenheiten Grundlage des Vorstehenden sind. Das eingangs gezeigte, stark renovierungsbedürftige Objekt („ländliche Idylle“) ist eindeutig eine Ausnahme.