Der anhaltende Aufstieg der AfD bedroht mittlerweile die Freiheit, die Menschlichkeit und die Demokratie in Deutschland. Dennoch ist ein überzeugendes Konzept der übrigen Parteien, der Regierenden und Abgeordneten dagegen unverändert nicht erkennbar. Sie scheuen einen Verbotsantrag gegen die Partei, auch einen Antrag nach Artikel 18 des Grundgesetzes gegen den Faschisten Björn Höcke, und sie rezitieren andauernd gebetsmühlenartig, man müsse „politische Lösungen anbieten“ (Reiner Haselhoff), die AfD „inhaltlich stellen“ und, wie es Nancy Faeser formulierte, „politisch schlagen“.
Aber um welche Inhalte und Lösungen soll es sich dabei handeln, wo sind die argumentativen Waffen, mit denen der Rechtsextremen mit Erfolg bekämpft werden könnten? Seit dem Ende der siebziger Jahre fördert die Politik systematisch die finanzielle Umverteilung von unten nach oben, wobei die bis dahin vorhandene soziale Komponente des Kapitalismus immer mehr erodierte. Viele Millionen von Arbeitnehmern beziehen inzwischen Niedriglöhne und der Mittelstand rutscht zunehmend ebenfalls in die Armut ab. Auch in der Landwirtschaft werden vor allem die Großbetriebe gefördert, den Kleinen geht es in der Regel schlecht.
Weite Teile der Bevölkerung fühlen sich zu Recht von den „Volksvertretern“ schon lange nicht mehr repräsentiert und haben jedes Vertrauen in die politischen „Eliten“ der Städte verloren. Sie vermissen die gesellschaftliche Solidarität, ohne die eine Demokratie dauernd nicht bestehen kann. Bloße Worthülsen wie „Respekt“ (Olaf Scholz in Sachen Arbeitnehmer, besonders Pflegekräfte) und „Wertschätzung“ (Cem Özdemir bezüglich der Bauern) können eine empathische Politik, die ein wahres Miteinander der Menschen herbeiführt, nicht ersetzen. Seit vielen Jahren wächst die AfD nicht zuletzt wegen dieses Versagens der Etablierten; extreme Rechte finden sich zwar auch in den Kreisen finanziell Saturierter, aber die große Mehrheit der Afd-Wähler gehört zu denen, die benachteiligt sind oder befürchten, es zu werden. Dennoch bleibt die unverantwortliche Haltung der noch herrschenden politischen Kaste im Wesentlichen unverändert. Die ins Auge gefasste Tierwohlabgabe auf Fleisch würde eine bedrohliche Belastung wieder nur für die Armen bedeuten. Und der unsägliche Christian Lindner sperrt sich mit Erfolg gegen die geringste Steuererhöhung für die Reichen und will nun den Kinderfreibetrag erhöhen, nicht aber das Kindergeld….
Politik beginnt laut Kurt Schumacher mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Dazu aber ist die führende deutsche Politik nicht bereit, und erst recht nicht zu einer Änderung ihres ruinösen Verhaltens, zumal ihre Repräsentanten sich zu der „Elite“ zählen, die im kapitalistischen Kampf aller gegen alle erfolgreich ist, und auch sie ja und von den einseitigen Begünstigungen der Reichen profitieren. Und so bleibt es eben bei dem relativ niedrigen Steuersatz auf große Einkommen, der zu Anfang der Regierung Kohl noch deutlich höher war, bei der unvertretbaren steuerlichen Begünstigung der Kapitaleinkünfte und bei der skandalösen Entlastung der Empfänger von Unternehmen von der Schenkungs- und Erbschaftsteuer und so weiter – als ob es die zunehmende Bedrohung durch die furchtbare AfD und die Gründe für ihren Erfolg nicht gäbe.
Die derzeitigen Demonstrationen gegen allgemein „rechts“ oder speziell die AfD sind wenig produktiv, da sie der AfD nicht schaden und zur Erleichterung der übrigen Parteien vom Wesentlichen ablenken; sie sollten sich besser und endlich – wie die der Bauern, Spediteure und Handwerker – gegen die FDP, die CDU/CSU, die SPD und auch die Grünen richten, denn auch diese Parteien sind seit einiger Zeit keine gute Wahl mehr, ebenso wie die außenpolitisch wirre, chronisch zerstrittene, neuerdings wieder einmal gespaltene und vermutlich weiter dahinmickernde Linke. Umso betrüblicher ist, dass auch die im mainstream schwimmenden, in der Hand von Wirtschaftsunternehmen (!) befindlichen Gazetten die Ursachen des AfD-Erfolgs kaum benennen; ein Hilmar Klute etwa kann sich in der Süddeutschen Zeitung vom 20./21 Januar wortreich zur Lage äußern, ohne darüber auch nur ein Wort zu verlieren.
Will man die AfD nach den 2024 anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg von der Übernahme der jeweiligen Landesregierung fernhalten, bleibt nach aller Voraussicht nur die Etablierung von Koalitionen, deren Mitglieder so wenig zueinander passen und daher ein so bürgerfernes Chaos produzieren wie die Ampel in Berlin seit geraumer Zeit. Freude kommt da nur bei der AfD-Führung auf. Wie Giorgia Meloni, Geert Wilders und Marine Le Pen müssen sie nur geduldig warten, bis ihre unheilvolle Saat aufgeht und sie die Macht übernehmen; die derzeit noch regierenden Parteien nehmen ihnen die Arbeit ab.
P.S.: In Übereinstimmung mit dem Vorstehenden: Der Berliner Soziologe Dieter Rucht hat inzwischen moniert, den großen Demonstrationen vom vergangenen Wochenende fehle ein „klarer Fokus“. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) fügte auf Seite 1 ihrer Ausgabe vom 22. Januar hinzu, für die Demokratie zu demonstrieren, lasse kein eindeutiges Ziel und keine klaren Adressaten erkennen. Und auf der nächsten Seite bleibt die von der SZ selbst gestellte Frage, ob die Demonstrationen die Zustimmungswerte der AfD beeinträchtigen werden, weise unbeantwortet. Warum sollten sie das auch? Die SZ berichtet ferner, die anderen Parteien hätten angesichts der Proteste gegen rechts „Erleichterung“ gezeigt. Kein Wunder.
P.S.2: Mit der Erleichterung aber ist es nicht getan: Christian Ude (SPD) beanstandet sogar, dass bei den Demonstrationen auch Kritik an der Ampel laut wurde: „Ich hätte mir eine Großkundgebung gewünscht, die ganz klar gegen rechtsradikale Strömungen antritt und nicht mit derselben Vehemenz auf die Ampelregierung schimpft. Eine Bewegung, die die Unionsparteien anprangert und Sozialdemokratie und sogar die Grünen in die Pfanne haut, wird sich schwertun, irgendwo in Deutschland noch parlamentarische Mehrheiten gegen die AfD zu bilden. Da wäre es gut gewesen, wenn es ein Bündnis für Toleranz, Demokratie und Rechtsstaat gäbe, in dem nicht sektiererische Gruppen derartig die Oberhand gewinnen wie im Veranstalterkreis.“ Die Tatsache, dass die „Altparteien“ mittlerweile nur noch das zu wählende geringere Übel sind, übersteigt sichtlich das Erkenntnisvermögen des SPD-Veteranen.