Wer wie die neue Bundesregierung auf Druck der FDP keine Steuern erhöhen will, sollte wenigstens für die Erfüllung der vorhandenen Steuerpflichten sorgen. Davon aber sind die Ampel und die deutschen Finanzbehörden weit entfernt. Ein krasses Beispiele dafür ist der weithin geduldete Missstand bei der Gewerbesteuer.
Nach dem deutschen Gewerbesteuergesetz (GewStG) sind die Gemeinden zur Erhebung der Gewerbesteuer berechtigt – einer Realsteuer, die neben der Grundsteuer eine wesentliche Einnahmequelle der Gemeinden darstellt. Die Gewerbesteuer dient damit unter anderem der Finanzierung der gemeindlichen Ausgaben für Soziales, Bildung und die örtliche Infrastruktur, die auch den in der Gemeinde tätigen Unternehmen zugute kommt.
Der Gewerbesteuer unterliegen die stehenden Gewerbebetriebe in der Gemeinde, in der eine Betriebsstätte zur Ausübung des stehenden Gewerbes unterhalten wird. Gemäß § 12 der Abgabenordnung ist eine Betriebsstätte jede feste Geschäftseinrichtung oder Anlage, die der Tätigkeit eines Unternehmens dient. Als Betriebsstätten sind regelmäßig der Ort der Geschäftsleitung, Zweigniederlassungen, Geschäftsstellen, Fabrikations- oder Werkstätten, Warenlager und Ein- oder Verkaufsstellen anzusehen.
Unterhält ein Unternehmen Betriebsstätten in mehreren Gemeinden, wird die Gewerbesteuer zwischen den beteiligten Gemeinden aufgeteilt („zerlegt“). Maßstab ist dabei laut § 29 GewStG die Summe der Arbeitslöhne, die an die „bei den Betriebsstätten der einzelnen Gemeinde beschäftigten Arbeitnehmer gezahlt worden sind.“
Besteuerungsgrundlage ist der Gewerbeertrag, der nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes oder des Körperschaftsteuergesetzes unter Berücksichtigung von Hinzurechnungen und Kürzungen sowie eines Freibetrages vom Finanzamt festgestellt wird. Dieser Gewerbeertrag wird mit der bundeseinheitlichen Steuermesszahl von 3,5 Prozent und der sich daraus ergebende Steuermessbetrag sodann mit dem Hebesatz der jeweiligen Gemeinde multipliziert, woraus die Höhe der Steuer folgt. Nach § 16 GewStG beträgt der Hebesatz “200 Prozent, wenn die Gemeinde nicht einen höheren Hebesatz bestimmt hat.“
Hier liegt das Einfallstor für vielfache Manipulationen: Unweit von Großstädten mit typischerweise relativ hohen Hebesätzen (Düsseldorf: 440 Prozent, Köln 475 Prozent, München 490 Prozent) befinden sich nicht selten kleine Gemeinden mit außerordentlich niedrigen Sätzen (Monheim am Rhein: 250 Prozent, Gräfelfing: 250 Prozent, Grünwald 240 Prozent.). Und auf wundersame Weise verlegen zahllose Betriebe seit langem ihren Sitz in diese inländischen Steueroasen. Tausende sind es bereits in Grünwald und in Gräfelfing – der mittlerweile zweitreichsten Gemeinde in Bayern.
In vielen Fällen liegt dabei offensichtlich – wie auf den Cayman Islands – die bloße Nutzung von Briefkästen vor; ein einschlägiger Berater wirbt im Internet denn auch entsprechend („Lassen Sie uns wissen, ob Sie lediglich eine Geschäftsadresse benötigen…..“). Als Betriebsstätte im Sinne der Abgabenordnung ist ein Briefkasten aber selbst dann nicht anzusehen, wenn die Post an den Betrieb weitergeleitet wird. Auch wenn sich einzelne Mitarbeiter des Betriebes gelegentlich in dem Gebäude aufhalten, das der Briefkasten ziert, müsste doch die Gewerbesteuer zumindest derart „zerlegt“ werden, dass sie im Ergebnis ganz oder fast vollständig der Gemeinde zugute kommt, in der sich der tatsächliche Sitz des Betriebs befindet.
Bei der Deklarierung und Abführung nur der niedrigen Gewerbesteuern in der Steueroase handelt es nach allem häufig nicht um die legale Nutzung eines gesetzlichen Schlupflochs, sondern um den eindeutigen Verstoß gegen steuerliche Vorschriften, deren Anwendung nur durchgesetzt werden müsste. Überdies dürften nicht selten Tatbestände der strafbaren Steuerhinterziehung verwirklicht sein.
All dies verfolgen die Finanzbehörden jedoch offensichtlich kaum – ein schlichter Skandal. In ihrer Ausgabe vom 22./23. Januar 2022 schätzte die die Süddeutsche Zeitung (SZ), dass den betroffenen Gemeinden durch die gewerbesteuerlichen Manipulationen jährlich etwa eine Milliarde Euro entgeht und forderte, diese ungerechtfertigte Privilegierung von Unternehmensinhabern gegenüber den Lohnabhängigen abzustellen. Von den bayerischen Landtagsfraktionen der SPD und den Grünen aufgefordert, die Fälle zu benennen, in denen die bayerische Finanzverwaltung gegen die derzeitigen Missbräuche vorgeht, konnte oder wollte Finanzminister Füracker lange keine Zahlen nennen (SZ vom 26. Januar 2022). Der Versuch der NACHTGAZETTE, durch Kontaktierung der Fraktionen herauszufinden, ob dies inzwischen geschehen ist, war bisher nicht erfolgreich. Wir werden weiter berichten.
Die effektivste Lösung für die Zukunft bestünde in der Festsetzung eines fixen, hohen Hebesatzes, zumindest eines wesentlich erhöhten Mindestsatzes, seitens des Bundesgesetzgebers, aber das liefe eben in vielen Gemeinden auf eine Steuererhöhung hinaus….
Foto: Nagy/Presseamt München (Ausschnitt)