Nicht wenige, die regelmäßig eine Tageszeitung lesen und Nachrichten sowie Talkshows im Fernsehen verfolgen, werden gelegentlich heftig an ihren Ohrläppchen ziehen, um sich zu vergewissern, dass wenigstens sie selbst noch real existieren. Denn die Medien spiegeln zunehmend Scheinwelten und sind zugleich aktiver Teil davon.
Dies zeigte etwa der Skandal um die systematischen Bestechungen und schwarzen Kassen bei Siemens: Jedem in der Wirtschaft auch nur halbwegs Bewanderten war bekannt, dass Bestechung seit langem alltäglicher Bestandteil der Aquisition von Aufträgen durch deutsche und internationale Konzerne war (und es vermutlich auch noch ist). Dies hinderte weder die Beteiligten auf den höchsten Ebenen bei Siemens, noch die Vertreter der Politik oder die Medien daran, in der Öffentlichkeit lange Zeit den Eindruck zu erwecken, dieser Sumpf sei ihnen ganz neu.
Auch ist es nicht eben leicht, sich vorzustellen, Herr Piech, der doch sonst über alles bei VW so gut informiert war, habe von den jahrelangen besonderen Leistungen gegenüber Herrn Volkert nichts gewusst, und im obersten Führungszirkel bei VW habe man nicht einmal die entsprechenden Pikanterien genüsslich ventiliert, zumal sie Gewerkschaftsvertreter betrafen. Wie dem auch sei: Als oberster Vertreter des Managements wurde Herr Hartz zur Verantwortung gezogen. Seine Strafe war freilich deutlich geringer als die Gefängnisstrafe ohne Bewährung, zu der Herr Volkert für die bloße Beihilfe verdonnert wurde. Dass der Verteidiger des Herrn Volkert in diesem Zusammenhang von einer „Zwei-Klassen-Justiz“ sprach, ist nur allzu verständlich. Der „Deal“ ist der Tod einer gerechten Strafjustiz, nur bemerkt es noch niemand. Die Medien nahmen auch all dies mit wenigen Ausnahmen recht gelassen hin.
Ebenso unübersehbar ist, dass der Kapitalismus wahrlich nicht nur bei wenigen Einzelnen die Seuche einer schier grenzenlose Gier erzeugt hat, die soziales Verhalten inzwischen sogar als der Karriere der Manager abträglich brandmarkt. In Harvard sind entsprechende Fürchterlichkeiten inzwischen Teil des Studiums. Ziel des modernen Top-Managers ist der schnelle Unternehmensprofit, an dem er regelmäßig beteiligt ist, und so entlassen inzwischen immer mehr hochprofitable, mit Milliardengewinnen ausgestattete Unternehmen massenweise Arbeitnehmer, ohne sich einen Deut darum zu scheren, was aus ihnen wird. Ist das Management ehrlich und räumt ein, dass es dabei ausschließlich um eine weitere Steigerung der Gewinne geht wie bei Nokia und soeben bei BMW, wo erklärtermaßen eine zukünftige Rendite von sage und schreibe 26 % des Kapitals angestrebt wird, gilt das als dumm. Die „richtige“ Begründung sei es, so hört man dann von Vertretern der Wirtschaft, die Entlassungen seien unumgänglich, um die Kosten zu senken und so den Bestand des Unternehmens und der verbleibenden Arbeitsplätze zu sichern. Aber diese Begründung ist zynisch, denn ein sozial denkender Unternehmer entlässt Arbeitnehmer erst, wenn sein – nicht am Maßstab grenzenloser Gier gemessener – Profit allzu gering geworden ist oder es andernfalls an der Fähigkeit zu zukuntssichernden Investitionen fehlt; im deutschen Mittelstand ist eine solche Haltung innerbetrieblicher Rücksichtnahme noch heute verbreitet, jedenfalls solange Ältere am Ruder sind. Von einer solchen Situation kann bei Nokia und BMW aber beim besten Willen nicht die Rede sein; jeder Mitarbeiter bei Nokia in Bochum hat einen Gewinn von jährlich 90.000 Euro erwirtschaftet! Aber wenn die Mär von der Sicherung der Existenz des Unternehmens und der verbleibenden Arbeitplätze ertönt, verstummt der Protest in der Politik und den Medien schnell – als ob niemand in der Lage wäre, den Unrat darin zu erkennen. Auch hier gilt: Man gibt sich mit dem Schein einer sozial angemalten Begründung zufrieden und sieht zu, wie immer mehr andere Unternehmen (derzeit etwa Henkel) den schlechten Beispielen folgen.
Auch wenn die Vergütungen des obersten Managements in schier unglaublicher Höhe angehoben werden, während man die „einfachen“ Arbeitnehmer zwecks Kostensenkung auf die Straße schickt, werden die Vertreter der Unternehmensverbände nicht müde, zu erklären, so handelten nur „einige wenige schwarze Schafe“, obwohl sie es besser wissen. Die Politik und die Medien „kaufen“ auch dies und bleiben wie gewohnt dezent oder beschränken sich auf medienwirksame moralische Appelle – als ob sie nicht wüssten, dass diese bei den Angesprochenen zuletzt verfangen.
Und was tut die deutsche Regierung seit Jahren gegen das Kartell der großen, räuberischen Strom- und Gaslieferanten, die nicht einmal einen größeren Teil der von ihnen vereinnahmten Durchleitungsvergütungen in die veralteten Netze investierten? Kaum mehr als nichts, warum auch. Über die 10%ige Ökosteuer und die Mehrwertsteuer von 19 %, ist der Staat Teil dieses hässlichen Kartells und profitiert von allen Preiserhöhungen! Den besten Weg zur Herstellung von Wettbewerb aber, die Trennung der Netze von den Strom- und Gasanbietern, verhindert unsere Regierung seit Jahren gegen die EU-Kommission, und sie versucht es noch immer, obwohl EON nunmehr ihre Netze abzugeben bereit ist, nachdem sie seit Jahren nicht ordnungsgemäß instandgehalten bzw. erneuert wurden. Stattdessen erweckt die Große Koalition nunmehr schon jahrelang den bloßen Anschein, sie gehe auf andere Weise ernsthaft gegen diese Räubereien vor.
Auch die massenweise Steuerhinterziehung durch den Transfer von Milliarden in Steuerparadiese wie die Schweiz, Liechtenstein, Andorra oder die Cayman Islands war in unserer Republik seit vielen Jahrzehnten allgemein bekannt. Diese Paradiese wurden, wie das Beispiel Hessen gezeigt hat, auch von Parteien zugunsten ihrer ominösen Stiftungen genutzt und wohl auch deshalb von der deutschen Politik seit jeher allenfalls halbherzig bekämpft. Was hat die Politik in den letzten 30 Jahren gegen das unverantwortliche Verhalten etwa Liechtensteins unternommen, welche Sanktionen wurden verhängt oder in der EU durchgesetzt? Dennoch wird von der Politik nun Empörung über die „asozialen“ Steuersünder vorgegaukelt – und die Medien halten sich mit ihrer Kritik an der Politik wie gewohnt vornehm zurück.
Selbst eine Sendung wie „Hart aber Fair“ versagt inzwischen, da der Moderator es bei gelegentlich provozierenden Fragen oder Filmchen bewenden und sich als Antwort allzu oft unwidersprochen Quark servieren lässt. Friedrich Küppersbusch, der einzige Moderator einer politischen Fernsehsendung, der ausweichende oder unsinnige Antworten und Unwahrheiten nicht einfach hinnahm, wurde seinerzeit sehr schnell zurückgezogen; nein, die Medien sind Teil des Systems; sie wollen niemandem wehtun, auch wenn es noch so notwendig wäre.
Inzwischen sind es – abgesehen von der Linken mit ihren allzu populistischen Konzepten – nur noch Kabarettisten, die sich mit der Realität wirklich kritisch auseinandersetzen. Die Scheibenwischer-Protagonisten gehören seit dem Ausscheiden von Dieter Hildebrandt und Georg Schramm leider kaum noch dazu; sie beschränken sich zunehmend auf gehobene Unterhaltung, die sich positiv nur noch von dem traurigen Comedy-Schrott absetzt, der einige Sender noch immer überflutet. Aber selbst wenn ein kritischer und gebildeter Geist wie Georg Schramm bei Maischberger Missstände der ungezügelten Marktwirtschaft benennt und Änderungen am System verlangt, hält ihm das „Cleverle“ allen Ernstes entgegen, ein besseres System als die freie Marktwirtschaft gebe es nun einmal nicht, und niemand ruft ihn zur Ordnung. Durch derlei Scheinargumente schiebt man ein wichtiges Thema erfolgreich ins Nichtssagende ab.
Man könnte schier unendlich fortfahren, etwa mit der unseligen Diskussion um das „Umfallen“ von Parteien anhand des hessischen Wahlergebnisses. Zum einen ist jede Festlegung einer Partei vor einer Wahl auf eine bestimmte Koalition im Kern undemokratisch, da alle demokratischen Parteien koalitionsfähig sind und die Wahlergebnisse einschließlich der daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten nun einmal erst nach der Wahl bekannt sind. Ein „Umfallen“ kann daher ernsthaft allenfalls dann konstatiert werden, wenn essentielle sachliche Positionen aufgeben werden. Die derzeitige Haltung der hessischen FDP ist daher ebenso unverantwortlich, wie es die Haltung der SPD bezüglich der Linken vor kurzem noch war. Aber in Wahrheit geht es bei der ganzen Diskussion eben gar nicht um die Verlässlichkeit der Parteien, sondern um ihren sehr eigennützigen Wunsch, in der so genannten Öffentlichkeit lediglich den Eindruck von Vertrauenswürdigkeit zu erwecken.
Die Neigung der Parteien zum bloßen Schein schreckt auch vor den bizarrsten Blüten nicht zurück. Vor der Wahl in Hamburg war der SPD-Vorsitzende Beck (endlich) zu der Überzeugung gekommen, entgegen den Beteuerungen der Frau Ypsilanti vor der Hessen-Wahl eine Zusammenarbeit mit der Linken in Hessen doch nicht pauschal abzulehnen. Als er dies vor dem Wahltag in Hamburg öffentlich klarstellte, löste er damit in weiten Teilen der SPD, insbesondere beim SPD-Kandidaten Naumann, eine geradezu moralisch eingefärbte Empörung aus. Diese beruht offensichtlich auf einer inzwischen als selbstverständlich und akzeptabel angesehenen und der Öffentlichkeit bedenkenlos präsentierten Forderung, ein Wahlergebnis durch Schein zu manipulieren. Von den Medien wurde auch dieser Irrsinn soweit hier bekannt in keiner Weise beanstandet.
Wir leben in einer Zeit, die in immer stärkerem Maße den Schein an die Stelle der Wirklichkeit setzt, wobei die Rolle des Fernsehens und der Presse, die einmal als vierte Gewalt im Staate galt, besonders enttäuschend ist. Es ist eine Binsenweisheit: Jeder Schein wird irgendwann von der Wirklichkeit eingeholt, und das ist selten angenehm.