Bedeutende Gazetten veranstalten Leserreisen, vorzugsweise per Schiff, nun auch die Nachtgazette. Allerdings unterscheidet sich unser Vorhaben wesentlich vom Üblichen. Es dient nicht dem bloßen Zeitvertreib für Gelangweilte, nein:
Wie schon zu Zeiten Noahs droht der Menschheit bekanntlich eine große Flut, die Meeresspiegel steigen kontinuierlich an und die gewaltigen Unwetter werden zahlreicher. Hinzukommt eine weltweite Hitzewelle, die sich anschickt, alles verdorren zu lassen, was auf dem jeweils noch vorhandenen Lande kreucht und fleucht. Und so wurde von jenem höheren Wesen, das wir verehren, diesmal die Nachtgazette beauftragt, alles Lebenswerte auf Erden vor dem Untergang zu retten.
Die Wahrnehmung dieser Aufgabe setzt eine Wahl voraus, wer oder was überleben soll, und diese kann nur ein Ergebnis haben: Die wirtschaftlichen Eliten, zu messen an der Größe ihres Vermögens, sind es, deren Fortleben zu sichern ist. Sie, die ihren Erfolg selbst und allein, auch hochwohlgeboren dank segensreicher Erblasser, erzielt haben, sind der ultimative Beweis dafür, dass der Stärkere (und von der Politik verlässlich weiter Gekräftigte) sich zu jeder Zeit durchsetzt und daher gemäß den ehernen Grundsätzen eines „survival of the fittest“ zu retten ist, Darwin lässt grüßen.
Angesichts einer derart oligarchischen Kundschaft versteht es sich, dass unsere Leserreise nicht in einem hölzernen Kasten stattfinden kann, wie er noch für Noah, seine Familie und sein Vieh angemessen gewesen sein mag. Vielmehr steht ein neues, turmhohes und unsinkbares Kreuzfahrtschiff der renommierten Werft Babel AG mit all dem Luxus zur Verfügung, den die Passagiere mit Fug und Recht für sich beanspruchen können. Auf dem obersten Deck ist man, um eine werbliche Wendung zu bemühen, „dem Himmel so nah“! MS „Noah Fortune“ läuft in Kürze vom Stapel; die Abbildung zeigt den weit niedrigeren Vorgänger. Zu den vielfachen Annehmlichkeiten des neuen Schiffs gehören Kabinen und Suiten in einer bisher nicht gekannten Größe und Ausstattung einschließlich voluminöser Tresore, in denen die Teilnehmer Preziosen sicher lagern können.
Auch für erlesene Speisen und Getränke sowie erstklassige ganztägige Unterhaltung ist gesorgt. Das speziell für die Betreuung von Milliardären ausgebildete, zuverlässig devote Personal inklusive medizinischer Spezialisten zur Behandlung von Krankheiten jeder Art nächtigt im Maschinenraum, damit die Passagiere ihre angestammten sozialen Verhältnisse nicht missen müssen. Ausgenommen von der gewohnten Distanz ist nur unser außergewöhnlich befriedigender Escort-Service, den wir Alleinstehenden und sonst Unterversorgten dezent stundenweise anbieten.
Da allein die Gewähr eines den Vermögensverhältnissen der Passagiere entsprechenden, angenehmen Überlebens maßgeblich ist, hat die Reise kein bestimmtes geographisches Ziel. Auch ihre Dauer ist nach Lage der Dinge noch offen; eine Rückkehr in den Ausgangshafen ist aus naheliegenden Gründen nicht vorgesehen. In sämtlichen Erdteilen sind an erhöhten Standorten umfängliche Vorräte an Treibstoff, Kleidung, Inkontinenzeinlagen und Lebensmitteln in beträchtlicher Tiefe kühl gebunkert, so dass auch bei einer Reisedauer bis zur nächsten Eiszeit keinerlei Engpässe auftreten können. Die zwischenzeitlich versterbenden Passagiere werden auf Wunsch nach allen Regeln ärztlicher Kunst tiefgefroren, zum geeigneten späteren Zeitpunkt schonend aufgetaut und wieder zum Leben erweckt.
Interessenten sollten über ein Vermögen im Gegenwert von mindestens 50 Milliarden Euro verfügen; Ausnahmen sind nur im Einzelfall gegen eine beträchtliche stille Sonderzuwendung möglich, über deren Höhe wir Sie gern vertraulich informieren. Anmeldungen (bitte mit entsprechenden Vermögensnachweisen, die selbstverständlich diskret behandelt werden) sind nur bis zum 31. Dezember 2022 bei der Nachtgazette möglich, da MS „Noah Fortune“ bereits am Ende des Monats Januar 2023 in Hamburg auslaufen wird. Der Reisepreis beläuft sich pro Person und Monat auf nur 100.000 Euro für einfache Kabinen mit einer Größe von 100 qm; für Haustiere bis zur Höhe und Länge eines ausgewachsenen, stehenden Kojoten gewähren wir einen Rabatt von 50%. Über Näheres informieren die ausführlichen Reisebedingungen nebst Preisliste, die wir Ihnen gern übersenden.
Getreu dem Motto Erich Kästners „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ sind wir davon überzeugt, mit dem Projekt außerordentlich Sinnvolles ins Werk zu setzen. Etwaige Bedenken, die auf dem Schicksal der Titanic oder gar des Turmbaus zu Babel gründen, weisen wir als allzu weit hergeholt entschieden zurück.