Ob es Donald Trump gefällt oder nicht: Am Ableben des Jahres 2020 besteht kein ernsthafter Zweifel. Es siechte schließlich schon seit längerem dahin. Die Beerdigungsfeiern einschließlich der üblichen Nachrufe durch Comedians, Kabarettisten und die Bundeskanzlerin erfolgten auch schon vor dem Exitus.
Versuche interessierter Kreise, auf die vergangenen, unseligen zwölf Monate erneut das vergleichsweise idyllische Jahr 2019 folgen zu lassen, sind sichtlich gescheitert; die seit dem Ablauf des 31. Dezember veröffentlichten Daten sprechen unmissverständlich gegen den Erfolg des Vorhabens. Die Konsequenzen für die Hinterbliebenen sind unabsehbar. Nicht zufällig warf eine renommierte bayerische Tageszeitung soeben die bange Frage auf, ob das Glas halb leer oder halb voll ist (Abb.).
Im Rahmen der Beantwortung vermeldete die Gazette nach Konsultation einschlägiger Experten, in der Verhaltenspsychologie unterscheide man „grob ausgedrückt“ zwischen Extraversion und Neurotizismus, was unvermeidlich mit einer gewissen Abwertung der Anhänger des Halbleeren einherging, und lieferte wie gewohnt systemstabiliserend Beruhigendes für die Annahme, das Glas sei halb voll, etwa in Gestalt der erfreulichen politischen Verhältnisse im für uns und global so wichtigen Neuseeland.
Diese Analyse erscheint wenig feinsinnig dargetan, vermeinen wir doch, als Gegenpol zur Extraversion gelte seit C.G. Jung die Introversion, die mit Neurotischem auch bei aller Phantasie nichts zu tun hat. Danach ist der Introvertierte, der bei mäßigem Tatendrang eine ruhige Umgebung wie die eigene Wohnung und soziale Kontakte in kleiner Runde bevorzugt, unverzichtbar. Er denkt und reagiert zwar langsamer als der mehr nach außen gewandte und aktivere Extravertierte (bzw. Extrovertierte), ist aber in Hirnregionen besser durchblutet, die für Planungen und Problemlösungen relevant sind. Die Erkenntnis, dass derlei Eigenschaften durchaus als Zeichen geistiger Gesundheit anzusehen sind, ist nicht neu. Schon Lao-Tse hat den Wert des Nichtstuns betont, und Blaise Pascal hat darauf hingewiesen, dass die Probleme der Menschen vor allem darauf beruhen, dass letztere ihre vier Wände zu häufig verlassen.
Beeindruckt in Sachen Psychologie hat uns Viktor E. Frankl mit seinen Therapien der Selbsttranszendenz und -distanzierung. Sie sind der buddhistischen Philosophie und Psychologie verwandt, die anstelle des – oft jahrelangen – Herumrührens in Wunden aus der Kindheit das Vorhandene (unter Distanzierung von der Schimäre des Egos) zum Ausgangspunkt positiven Tuns machen. Zugegebenermaßen sind wir im Bereich westlicher Psychologie jedoch eher schwach belichtet, weshalb auch unsere Überzeugung, das Glas vieler anderer Methoden und Protagonisten derselben sei bei näherem Hinsehen nicht einmal halb leer, kaum mehr als ein hergelaufenes Vorurteil sein kann.
Aber kehren wir wenigstens kurz zurück zur erwähnten Fragestellung. Wer da meint, das Glas der Menschheit und generell des Planeten sei halb voll, ist nicht mehr als ein unverbesserlicher Optimist. Der „homo sapiens“ schafft sich – ultimative Manifestation seiner Weisheit – ab, nur die Erde wird (schwer geschädigt) mit manchen Tieren und Pflanzen überleben, ein unvergleichliches Sujet für den segensreichen schwarzen Humor. Die Lage ist und bleibt hoffnungslos, aber keinesfalls ernst.