Hosianna! Wie herrlich diskret, ohne jedes „Durchstechen“, wurde die Koalition aus SPD, Grünen und FDP sondiert und dann geschmiedet! Wie bewundernswert gelang es ehemaligen politischen Gegnern dabei, neues Vertrauen aufzubauen und miteinander unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen! – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ zu einem ganz neuen Deutschland aufzubrechen! Die systemstützenden Medien und die Wähler der Oberschicht sind nahezu ausnahmslos rundum begeistert. Die Sehnsucht, nach sechzehn Jahren Stagnation unter Angela Merkel nun einen stilvollen und vor allem schmerzfreien Start in eine gloriose Zukunft zu erleben, ist groß.
Wer in dem geräuschlosen Zustandekommen der neuen Bundesregierung demgegenüber vor allem den unbedingten Willen der Beteiligten zur Erringung gut dotierter, machtvoller Posten – und hinter dem 177seitigen Koalitionsvertrag geplanten weiteren Stillstand hinsichtlich der wichtigsten Probleme des Landes – ausmacht, wird sogleich als typisch deutscher Miesmacher verteufelt. Dabei wird gern übersehen, dass neben der Pandemie vor allem zwei Großbaustellen existieren: Die bevorstehende weltweite Klimakatastrophe und die soziale Spaltung auch der deutschen Gesellschaft, die eine wesentliche Ursache für den extremen, von den „Eliten“ abgewandten Rechtsruck in der Bevölkerung und die nicht minder demokratiefeindliche Querdenkerei ist. Keine dieser Baustellen wird im Koalitionsvertrag nennenswert bearbeitet.
Hinsichtlich der Vermeidung des fortschreitenden Klimahorrors setzen die Koalitionäre noch immer auf Wirtschaftswachstum, verbunden mit der bloßen Hoffnung auf zukünftige technologische Lösungen. Sicher ist nur, dass mit weiterem Wachstum erhöhter, ökologisch verheerender Ressourcenverbrauch einhergehen wird. Auch der Handel mit Verschmutzungsrechten (Emissionszertifikaten) sollte sich zur Genüge als ineffektiv erwiesen haben. Nicht einmal die überfällige allgemeine Geschwindigkeitsbeschränkung für die Autobahn auf 130 km/h, die sofortige Einstellung der seit jeher unsinnigen Förderung der Hybrid-Fahrzeuge und ein Verbot inländischer Kurzstreckenflüge haben die Grünen durchgesetzt. Gleiches gilt für den sicheren Ausstieg aus der Kohle vor dem Jahr 2039.
Zum anderen fehlt es an jeder auch nur ansatzweisen Bemühung, die beständig zunehmende, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstörende soziale Ungleichheit einzudämmen. Die skandalöse schenkungs- und erbschaftssteuerliche Begünstigung der Unternehmenserben bleibt ebenso unangetastet wie die steuerliche Bevorzugung der Einkünfte aus Kapital gegenüber denen aus Arbeit. Eine steuerliche Entlastung der bröckelnden Mittelschicht und der Unterschicht wird es nicht geben, erst recht nicht einmal eine bescheidene Erhöhung der Einkommenssteuern für Hochverdiener. Das anachronistische, Kinderlosigkeit belohnende Ehegattensplitting wird noch immer nicht durch ein Familiensplitting ersetzt. Auch eine Besteuerung der Gewinne aus der Veräußerung von beweglichen und unbeweglichen Vermögenswerten, die mehr als zwei bzw. zehn Jahre im „Privatvermögen“ gehalten werden, findet unverändert nicht statt, obwohl (oder weil) nur Vermögende beispielsweise Aktien, Gold oder Immobilien erwerben können.
Kurz: Die Reichen und die Großwirtschaft werden weiter reich-lich bedient, für die Ärmeren jedoch bleiben, und sei die Inflation noch so heftig, nur minimale Verbesserungen bei der Grundsicherung, die nun Bürgergeld genannt werden soll, und die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro – noch immer ein Hungerlohn, von dem allenfalls ein Alleinstehender ohne Nachwuchs einigermaßen würdevoll leben kann, und auch das nur außerhalb der Großstädte und ihrer Speckgürtel. Und wer ernsthaft glaubt, die verbesserten Zahlungen für Kinder würden diesen in nennenswertem Maße zugute kommen, ist ein Phantast.
All dies ist wenig überraschend. Klimaschutz und Soziales sind der FDP seit Jahrzehnten fremd und auch für den ungekrönten König der SPD Olaf Scholz schon lange kein zentrales Anliegen mehr. Die Grünen wiederum haben ihr Profil bereits geraume Zeit vor dem Bundestagswahlkampf 2021 in beiden Bereichen derart gehobelt, dass sie auf dem Weg zu den begehrten Futtertrögen keine Hindernisse mehr erkennen wollten und konnten. Wer kein Gesicht (mehr) hat, kann eben auch keines verlieren. Grund zum Jubeln ist das nicht. Eher scheint es, als ob die Große Koalition noch als Untote herumgeistern würde; die Harmonie zwischen Angela Merkel und Olaf Scholz beim Regierungswechsel sprach Bände.
Mit der neuen Koalition im Bund verhält es sich im Wesentlichen tatsächlich wie mit einer Ampel: Die einzige zur Verfügung stehende Taste ist gelb, und wenn man sie drückt, geschieht von Bedeutung – nichts.