Blick zurück nach vorn

11. April 2019 | Von | Kategorie: Teleskop

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Noch im 19. Jahrhundert war Großbritannien die einzige Supermacht der Welt. Auf dem Höhepunkt, im Gefolge des Ersten Weltkrieges, erstreckte sich das britische Empire auf nahezu ein Viertel der Landfläche der Erde, und seine Handelsmarine sowie Kriegsflotte beherrschten die Meere. Großbritannien regierte mehr als ein Fünftel der Weltbevölkerung und begründete mit Hilfe der damals starken britischen Wirtschaft den heutigen globalen Kapitalismus. Böse Zungen behaupten, das Empire sei nach dem „Gesetz nicht intendierter Auswirkungen“ vor allem durch private Initiativen entstanden, denen die Politik häufig nur nolens volens folgte. Der britische  Historiker  Sir John Seeley meinte gar, das Empire  sei „in einem Anfall von Geistesabwesenheit erworben worden“. Wie dem auch sei: Die Briten waren schließlich davon überzeugt, dazu berufen und fähig zu sein, die Welt zu regieren.

Die finanziellen Belastungen durch den Zweiten Weltkrieg und der danach weltweit zunehmende Nationalismus, der eine zügige Dekolonisierung unter Gründung zahlreicher neuer Nationalstaaten zur Folge hatte, ließen das im Kern wenig stabile britische Weltreich jäh zusammenbrechen. Erhalten von der britischen Wirtschaft ist mittlerweile im Wesentlichen nur die seuchenartige  Finanzwirtschaft, und von den britischen Kolonien sind (abgesehen vom losen Zusammenhang des Commonwealth) geblieben vor allem  einige Inselstaaten wie die britischen Cayman Islands, die mit Londons Unterstützung als Steueroasen fungieren und Geld waschen.

Trotz alledem ist bei den britischen „Eliten“, insbesondere den  in Eton, Cambridge oder Oxford  ausgebildeten Herren älteren Datums, noch immer die Überzeugung verbreitet, den Briten komme eine Sonderrolle in der Welt zu.  Parallel dazu betrachten britische Historiker und Politiker – so noch der britische Premierminister Gordon Brown in einer Rede im  Jahr 2005 – das jahrhundertelange Zerstörungswerk des British Empire nicht selten mit rosarot eingefärbter Brille.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass Großbritannien –  in Übereinstimmung mit den Bedenken des Charles de Gaulle dagegen, die Briten in das europäische Projekt aufzunehmen – nach dem Eintritt in die EU im Jahr 1973 unter Edward Heath (Konservative)  nur eine halbherzige  Rolle spielte. Bereits im Jahr 1974 veranlasste der britische Premierminister Harold Wilson (Labour) ein Referendum über den Verbleib oder  den Wiederaustritt des Landes, wobei die Konservativen und die Wirtschaftsverbände sich gegen den Austritt aussprachen. Damals stimmten noch 67 % der Wähler für den Verbleib.  Dies änderte aber nichts daran, dass die Briten sich  nie wirklich als gleichwertiges Mitglied in die EU integrierten, vielmehr stets Sondervorteile beanspruchten  und häufig einseitig den  Schulterschluss mit den USA suchten.

Im Jahr 2016 gelang es zwielichtigen Rechtspopulisten wie Nigel Farage (UKIP) und dem egomanischen Boris Johnson – offenbar mit der inzwischen üblichen subversiven Unterstützung Russlands – bekanntlich, das von dem britischen Premier David Cameron in einem Anfall geistiger Umnachtung  herbeigeführte weitere Referendum mit Hilfe über die sozialen Netzwerke gezielt verbreiteter  „fake news“ zu dem Ergebnis zu führen, dass eine knappe Mehrheit der Wähler für  „Leave“ stimmten. Und nun  haben die „Großen Briten“ den Salat, der nur der kleinen Gruppe eingefleischter Brexiteers wirklich schmecken will. Der klarsichtige britische Historiker Timothy Garton Ash  äußerte  dazu soeben  in einem Interview mit der SZ:  „Der Brexit hat alle irre gemacht. Es ist ein nationaler Nervenzusammenbruch; wenn man einzelnen Brexiteers zuhört, hat man den Eindruck, dass sie ein bisschen seltsam geworden sind.“ Diese Auffassung erscheint uns  als british understatement eher untertrieben.

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Lesenswert zum Thema, da kenntnisreich und flott geschrieben, ist  „Das Britische Empire“ von Ashley Jackson  (Reclam Sachbuch),  dem einige der vorstehenden Angaben entnommen wurden. Es enthält zahlreiche weitere Literaturnachweise. Ein deutschsprachiges Standardwerk ist  „Das Britische Empire. Geschichte eines Weltreichs“ von Peter Wende. Nur im englischen Original zu empfehlen, da schlecht ins Deutsche übertragen, ist „Das britische Empire. Ein Weltreich unterm Union Jack“ von Bill Nasson (Kapstadt).

 

 

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