Die deutsche Leitkultur gehört zur Gattung der Untoten. Sie saugt rechtslastigen Menschen das Hirn aus – auch solchen, die ansonsten über Bildung und Denkvermögen verfügen. Soeben hat sie wieder einmal ihr Haupt erhoben.
Nachdem der Berliner Tagesspiegel einen Artikel der in Hamburg geborenen, türkischstämmigen Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Aydan Özuguz (SPD) gedruckt hatte, in dem sie die Auffassung vertrat, es sei „eine spezifisch deutsche Kultur jenseits der Sprache schlicht nicht identifizierbar“, verkündete der Spitzenkandidat der AfD Alexander Gauland öffentlich, er wolle Özuguz „in Anatolien entsorgen“. Wie nicht anderes zu erwarten (und von Gauland zweifellos in bewährter Verantwortungslosigkeit geplant), löste diese üble, rassistische Bemerkung außerhalb der rechten Szene beträchtliche Empörung aus.
Allerdings bezeichnete Kurt Kister in der SZ vom 30. August 2017 auch die These der Integrationsbeauftragten als „unklug bis falsch“. Er meint, man könne den Begriff Leitkultur als bloße Feststellung schlicht so verstehen, dass er beschreibe, was spezifische, für eine beträchtliche Anzahl von Menschen identitätsstiftende, zum Teil typische Merkmale für „Deutschsein“ seien. Ein wichtiges Kriterium einer Nationalkultur sei die Sprache. Aber es gebe viel mehr, was das Identitätsgefühl vieler Deutscher forme. Dazu gehöre die Weimarer Klassik mit ihrem Denken und Ihren Werken, ebenso die regionale Vielfalt zwischen Rhein und Oder, die erst relativ spät zum Nationalstaat organisiert worden sei. Ferner sei die lutherische Reform sei in vielen ihrer Ausprägungen ebenso „deutsch“ gewesen wie der genozidale Imperialismus mit rasseideologischem Hintergrund. Auch die Zuwanderung seit den Gastarbeitern 1960 bis zu den Flüchtlingen 2015 habe Deutschland geprägt und geformt. Migration sei deutsch. All dies sei „identifizierbar“, und es lohne sich, darüber nachzudenken und zu streiten.
Uns erscheint das Prädikat „unklug bis falsch“ eher auf weite Teile der Argumentation Kisters zuzutreffen. Selbst wenn man davon absieht, dass die Deutschen mehrheitlich schon an den wenigen grundlegenden Fragen scheitern würden, deren Beantwortung Voraussetzung für die Einbürgerung ist, und eine Identitätsstiftung à la Kister nur für eine „beträchtliche Anzahl von Menschen“ durch nur „zum Teil typische Merkmale“ gewaltige Löcher in jedwede entsprechende Definition reißt: Der Begriff der Nationalkultur muss sich im vorliegenden Zusammenhang auf ein Ist beziehen, kann also sinnvoll an Vergangenes nur anknüpfen, wenn und soweit es sich fortwirkend maßgeblich in der Gegenwart manifestiert. Dies aber ist bezüglich nahezu aller von Kister benannten Umstände nicht der Fall.
Befragte man einen durchschnittlichen Deutschen nach der Weimarer Klassik, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit antworten, darüber könne er nichts Näheres sagen, er höre nur Pop. Ebenso wenig identitätsstiftend wirkt heute noch die Tatsache, dass Deutschland erst spät Nationalstaat wurde, und regionale Vielfalt findet man nicht minder in Ländern wie Frankreich oder in Spanien. Die lutherische Reform mag einmal „deutsch“ gewesen sein, ist aber seit Jahrhunderten auch in anderen Ländern verbreitet, und in Deutschland gehört heute nur etwas mehr als ein Viertel der Bevölkerung der Evangelischen Kirche an; die Zahl der deutschen Katholiken ist noch immer höher, der Anteil der Konfessionslosen ist es mit rund 36 % noch weit mehr. Und der „genozidale Imperialismus“ früherer Jahrhunderte, mit dem Kister sich offenbar nicht auf den des „Dritten Reichs“, sondern auf den Kolonialismus beziehen will, war bekanntlich wahrlich nicht auf Deutschland beschränkt. Er existiert zwar in Form der kapitalistischen Ausbeutung des Südens der Welt fort, ist aber als solcher auch heute kein deutsches Spezifikum, erst recht kein anzuerkennendes Merkmal deutscher Nationalkultur, vielmehr das einer mörderischen Unkultur. Zutreffend ist lediglich der Hinweis darauf, dass Deutschland seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts de facto ein Einwanderungsland ist (rund 4,4 % der Bevölkerung gehörten schon 2015 dem islamischen Glauben an) und es auf absehbare Zeit bleiben wird. Die dadurch bedingte, zunehmende Vielfalt Deutschlands mag man als identitätsstiftend im Sinne einer Nationalkultur einordnen. Dies aber ist zumindest für alle, die sich an die Existenz einer „Leitkultur“ klammern, ein höchst unwillkommenes Kriterium.
Wollte man aktuelle Elemente einer deutschen Nationalkultur nennen, könnten man entgegen Özoguz neben der Sprache noch die weitgehende säkulare Trennung von Religion und Politik und die programmatische Orientierung an Demokratie, Toleranz und Menschenrechten anführen, obwohl die Realität diese Grundsätze auch in Deutschland vielfach durchlöchert zeigt. Es bleibt eine kulturelle Vielfalt, die nicht nur Folge der Einwanderung, sondern auch der wirtschaftlichen Globalisierung, der Digitalisierung des Lebens und der zunehmenden Individualisierung (Vereinzelung) der Menschen ist. Überdies sind kulturelle Gegebenheiten weithin flüchtige Phänomene, da sie sich aus der jeweiligen, ständigem Wandel unterworfenen Gegenwart speisen (vgl. zu diesem Thema bereits unsere Glosse „reductio in se“ vom 5. Februar 2008). Diese Zeitgebundenheit fällt beispielhaft bei heutiger Durchsicht von Analysen der Frankfurter Schule auf, also eines Max Horkheimer oder Theodor Adorno; da blieben unvermeidlich wichtige seither eingetretene Entwicklungen unberücksichtigt. Um wie viel mehr ist das beim Rückgriff auf die „Weimarer Klassik“ der Fall! Letztere ist allenfalls noch zeitgemäß, wenn es um ewig Menschliches wie Dummheit, Raffgier, Machtstreben, Neid, Intrigen, Ausbeutung und Armut geht.
Nach allem müssen alle Versuche scheitern, eine befriedigende, handfest und dauerhaft im Tatsächlichen gespiegelte Definition deutscher Leitkultur zu ermitteln. Dennoch ist die These der Ayad Özoguz ein wenig zu eng geraten, die Kisters hingegen viel zu weit. Und es spräche viel dafür, die Debatte und damit die Leitkultur baldigst endgültig zu beerdigen. Die Erfahrungen mit Vampiren zeigen, dass das möglich ist. Und gewisse Zeitgenossen aus den düsteren rechten Winkeln der Republik sollte man nicht „entsorgen“, sondern geduldig aufklären, sie aber einstweilen nicht in den deutschen Bundestag wählen. Dort wären sie in ihrem derzeitigen, düsteren mentalen Zustand eine Schande für unser Land.