Laut Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes sind „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, verfassungswidrig.“ Mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit ist die Auflösung der Partei zu verbinden, ebenso das Verbot, eine Ersatzorganisation zu bilden. (§ 46 Absatz 3 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht). Nach diesen Regelungen reicht das Ziel, die freiheitliche Grundordnung zumindest zu beeinträchtigen, für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei und ihr Verbot eindeutig aus.
Der zweite Senat des höchsten deutschen Gerichts judizierte nun aber, eine Partei könne nur verboten werden, wenn „konkrete Anhaltspunkte von Gewicht“ dafür vorlägen, dass sie überhaupt die Möglichkeit zu einer Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung habe. Die NPD strebe zwar nach ihren Zielen die Beseitigung der demokratischen Grundordnung an; sie sei jedoch – ohne nennenswerten Einfluss – nur noch in Kommunalparlamenten vertreten; auch außerhalb der Parlamente sei keine auch nur regionale Dominanz feststellbar. Die Anschläge auf Asylantenbewerberheime ließen sich nicht genügend der NPD zuordnen, obwohl sie an der Entstehung eines ausländerfeindlichen Klimas beteiligt sei.
Mit dem Wortlaut von Art 21 Absatz 2 des Grundgesetzes ist diese Interpretation der Worte „darauf ausgehen“ unvereinbar; sie ist umso unverständlicher, als das Bundesverfassungsgericht bei dem Verbot der KPD im Jahr 1956 noch ausführte, einem Parteiverbot stehe es nicht entgegen, wenn für die Partei nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf bestehe, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen könne (BVerfG 5,85ff.,143). Daran, so meinte das Gericht nunmehr kurz, halte der Senat nicht fest.
Diese – zu allem Überfluss auch noch einstimmig zustande gekommene – Umkehr des zweiten Senats, die in unguter deutscher Tradition die Linke schlechter stellt als die Rechte, sendet ein unverantwortliches Signal der Schwäche an die ultrarechte Szene in der NPD, aber auch in der AfD und in Pegida, aus. Jahrzehnte hat es gedauert, bis die Bundesrepublik Deutschland sich mit Hilfe des Sensenmanns von dem nationalsozialistischen Unrat befreite, der die deutsche Exekutive, Legislative und Judikative nach 1945 noch durchtränkte. Gleichzeitig wuchsen aus diesem Sumpf „neue“, menschenverachtende und häufig kriminelle Nazis heran, die durch deutsche, auf dem rechten Auge schwer sehende Behördenvertreter noch heute allzu sehr geduldet werden. Und nun schwächelt auch die Judikative.
Warum in aller Welt sollte eine „wehrhafte Demokratie“ im Sinne des scheidenden Bundespräsidenten eine Partei erst verbieten können, wenn diese bereits die Möglichkeit hat, die freiheitliche Grundordnung zu beeinträchtigen? Was soll diese Möglichkeit überhaupt im Einzelnen voraussetzen? Und wer garantiert, dass ein Parteiverbot noch durchgesetzt werden kann, wenn bereits eine Beeinträchtigung vorliegt? Ein zugegeben extremes Beispiel: Die NSDAP erreichte bei der Reichstagswahl im November 1932 nicht mehr als 33,1 % der abgegebenen Stimmen und damit nur 196 der insgesamt 540 Reichstagssitze Das wäre nach der neuesten Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sicher ausreichend, aber ein Verbot der NSDAP wäre ebenso sicher im November 1932 nicht mehr durchsetzbar gewesen. Die alles andere als wehrhafte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die verdrucksten Reaktionen der Klägerseite darauf werden in der rechten Szene höhnisches Gelächter ausgelöst haben.
Dies umso mehr, als die Bundesrepublik Deutschland die verfassungsfeindliche Partei NPD, die im Jahr 2015 nicht weniger als 1, 3 Millionen Euro vom Staat erhielt, nun weiter alimentieren muss, bis diese – auch mit Hilfe solcher Zuwendungen – womöglich so mächtig wird wie vom Bundesverfassungsgericht – unklar – als Voraussetzung für ein Verbot gefordert. Zwar hat das Gericht darauf hingewiesen, dass die staatliche Finanzierung einer verfassungsfeindlichen Partei durch eine Grundgesetzänderung beseitigt werden kann. Aber das war nicht mehr als die Zurückverweisung des Problems an die Legislative – eines Problems, das auf der Grundlage des bestehenden Grundgesetzes vom Gericht durch ein Verbot der NPD zu lösen war.
Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist für viele Zeitgenossen, die nicht zu den Rechtspopulisten gehören, als Realsatire allenfalls pechschwarz humorig zu verdauen. So präsentierte denn auch extra3 das obige, treffliche Plakat, und Christian Ehring fügte unter anderem hinzu, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entspreche einem Arzt, der einem Patienten mit einem kleinen Karzinom rate, erst wiederzukommen, wenn der Tumor größer sei. Wie wahr.