Seit Wochen berichten die Medien über den chinesischen Feldzug gegen die Tibeter, kaum jedoch über die zugrunde liegenden historischen Entwicklungen. Dem sei hier ein wenig abgeholfen.
Die nomadischen Hochlandstämme Tibets vereinigten sich im 7. Jahrhundert zu einem Staat mit der Hauptstadt Lhasa, der im folgenden Jahrhundert zur beherrschenden Macht Zentralasiens wurde. Die Religion der Einwohner bestand schon damals im tibetischen Buddhismus (Lamaismus). Im 10. Jahrhundert ließ die Macht der tibetischen Könige nach, und es bildete sich die prägende Form der tibetischen Gesellschaft, in der das Land in freien Grundbesitz, Ländereien des Adels und Grundbesitz der Klöster aufgeteilt war und weitgehend durch abhängige Bauern bewirtschaftet wurde.
Im 13. Jahrhundert geriet Tibet für einige Jahrhunderte unter die Vorherrschaft der Mongolen, die jedoch tibetische Angehörige der buddhistischen Sakya-Schule als Vizekönige einsetzten. Dem „großen“ 5. Dalai Lama (1617-1682) gelang es mit mongolischer Unterstützung, die politische Macht seiner buddhistischen „Gelbmützenschule“ (auch „gelbe Schule“genannt) auszudehnen.
Lhasa wurde im Jahr 1717 von den Dsungaren erobert, die anschließend von den Chinesen vertrieben wurden. Seither war Tibet chinesisches Protektorat – ein Modell für die chinesisch/tibetischen Beziehungen, das bis zum 20. Jahrhundert fortbestand. In der Folgezeit wurden mehrere tibetische Aufstände durch die Chinesen niedergeschlagen, aber die Tibeter blieben doch relativ autonom.
Im Jahr 1904 drang eine britische Militärexpedition gewaltsam bis Lhasa vor, doch erkannten Großbritannien und Russland schon bald danach die chinesische Oberhoheit über Tibet in Form der Suzeränität an. Danach ist ein Staat (hier: China) befugt, wichtige Befugnisse eines anderen souveränen Staates (hier: Tibet) auszuüben. Im Jahr 1910 sandten die Chinesen eine militärische Expedition nach Tibet, um diesen Anspruch zu festigen, und der 13. Dalai Lama floh nach Indien. Im Zuge der Revolution in China 1911, des Sturzes der Qing-Dynastie und des Endes des chinesischen Kaisertums zog China seine Truppen jedoch aus Tibet zurück. Tibetische Verbände zwangen die letzten chinesischen Streitkräfte, das Land zu verlassen, und der aus Indien zurückgekehrte Dalai Lama erklärte 1913 die förmliche Unabhängigkeit Tibets. China war in der Folgezeit zwar durch den chinesisch/japanischern Krieg geschwächt, gab seinen Anspruch auf Tibet jedoch nicht auf.
Angesichts des 1945 in China ausgebrochenen Bürgerkrieges wurden alle chinesischen Beamten aus Tibet verwiesen, und die tibetische Armee wurde aufgerüstet. Zugleich bat Tibet vorsorglich um internationale Unterstützung, die jedoch versagt wurde. Nach der Gründung der Volksrepublik China unter Mao Zedong wurde die tibetische Stadt Chamdo im Oktober 1950 durch China besetzt. Der Widerstand durch die schlecht ausgerüstete tibetische Armee war gering. Im Alter von nur 15 Jahren übernahm der heutige, 14. Dalai Lama die Regierung in Tibet. 1951 unterzeichneten Repräsentanten der tibetischen Regierung unter politischem Druck Chinas ein 17-Punkte-Abkommen, in dem die Integration Tibets in China festgelegt wurde. Tibet wurden jedoch innerhalb des Staatsverbandes China innere Autonomie und Religionsfreiheit zugesichert. Die tibetische Regierung erfuhr von diesem Abkommen Tage später und genehmigte es schließlich. Kurz darauf wurde Lhasa durch die Chinesen besetzt. In der Folgezeit gliederte China Tibet immer vollständiger in das eigene Staatswesen ein, zerstörte einen Großteil der tibetischen Tempel und Klöster, besiedelte Tibet systematisch mit Han-Chinesen und errichtete strategisch wichtige Fernstraßen und Flughäfen zu den benachbarten chinesischen Provinzen, wobei viele – zwangsverpflichtete – Tibeter unter unmenschlichen Bedingungen eingesetzt wurden.
Bereits 1955 kam es in den östlichen Provinzen Tibets Kham und in Amdo zu einem Aufstand, der von den Chinesen blutig niedergeschlagen wurde. Nachdem die Chinesen des Dalai Lama fortgesetzt pietätlos behandelten, revoltierten die Tibeter 1959 auch in Lhasa. Auch dieser Aufstand wurde von den Chinesen mit Waffengewalt beantwortet. Der 14. Dalai Lama floh unter abenteuerlichen Umständen nach Indien. Tausende von Tibetern verloren ihr Leben, und ca. 80.000 Tibeter flohen in verschiedene Staaten. Unter Deng Xiaoping duldete die chinesische Führung zwar ab 1979 eine begrenzte Wiederbelebung der religiösen und kulturellen Traditionen Tibets – wobei einige Tempel und Klöster wieder aufgebaut wurden – und förderte die tibetische Wirtschaft, beutete aber zugleich die natürlichen Ressourcen Tibets aus und setzte die Sinisierungspolitik rücksichtslos fort. Die Han-Chinesen bilden inzwischen in allen größeren Städten die Mehrheit der Bevölkerung. Dies hatte zwischen 1987 und 1989 weitere Unruhen in Lhasa und anderen Gebieten des alten Tibet zur Folge.
Der 14. Dalai Lama bekennt sich seit Jahrzehnten konsequent zu einer buddhistischen Strategie der Gewaltlosigkeit, die bei den jungen Tibetern angesichts ihrer Erfolglosigkeit zunehmend auf Kritik stieß. Im Jahr 1987 legte der Dalai Lama einen 5-Punkte Friedensplan vor. Gefordert wurden darin Gewaltlosigkeit, Aufgabe der chinesischen Bevölkerungsumsiedelungen, Achtung der Menschenrechte sowie der demokratischen Freiheiten des tibetischen Volkes und die Wiederherstellung und der Schutz der tibetischen Umwelt. Die chinesische Führung wies diesen Plan strikt zurück, warf dem Dalai Lama die Absicht einer Spaltung Chinas vor und machte die Aufnahme von Verhandlungen von inakzeptablen Bedingungen abhängig.
Nach der chinesischen Betrachtungsweise ist Tibet seit mehreren Jahrhunderten fester Bestandteil Chinas. Die tibetische Unabhängigkeitserklärung vom Jahr 1913 ist nie wirksam geworden, zumal sie von keinem anderen Staat anerkannt wurde. Mit dem Abschluss des 17-Punkte-Abkommens im Jahr 1951 ist nach chinesischer Lesart lediglich der zuvor geltende Zustand fortgeschrieben worden.
Die tibetische Exilregierung ist der Auffassung, Tibet sei zum Zeitpunkt der Invasion durch die chinesische Volksarmee ein autonomer Staat gewesen. Die Invasion und die andauernde Besetzung Tibets durch China seien völkerrechtswidrig gewesen, hätten insbesondere gegen das Recht auf Selbstbestimmung verstoßen. Das 17-Punkte-Abkommen sei ungültig, da die Unterzeichnung durch militärischen Druck erzwungen worden sei. Überdies habe China die in dem Abkommen zugesicherte Autonomie und Religionsfreiheit Tibets nachhaltig verletzt.
Die Analyse der tibetischen Exilregierung hat Einiges für sich. Der US-Senat verabschiedete denn auch am 23. Mai 1991 eine Resolution, wonach Tibet – einschließlich der Regionen, die den chinesischen Provinzen einverleibt wurden – ein besetztes Land bildet, dessen wahre Repräsentanten der Dalai Lama und die tibetische Exilregierung bilden. Die chinesische Regierung wurde aufgefordert, die chinesischen Streitkräfte aus China zurückzuziehen.
Das Europäische Parlament stellte in einer Resolution vom 15. Dezember 1992 fest, das tibetische Volk sei ein Volk im Sinne des Völkerrechts, dem das Recht auf Selbstbestimmung zustehe. Ferner verurteilte es die militärische Besetzung Tibets durch chinesische Truppen und äußerte „Besorgnis“ angesichts der Bedrohung der „nationalen Identität“ des tibetischen Volkes.
Die Haltung Deutschlands zu Tibet hat sich in den letzten 20 Jahren zu Ungunsten Tibets verschoben. Während der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages im Jahr 1987 noch von einem ungeklärten politischen Status Tibets sprach und darauf hinwies, zum Zeitpunkt der gewaltsamen Einverleibung Tibets in den chinesischen Staatsverband sei Tibet ein „eigenständiger Staat“ gewesen, war in einer Resolution des deutschen Bundestages aus dem Jahr 1996 bereits zurückhaltender nur von einer „gewaltsamen Unterdrückung Tibets und seines Strebens nach politischer, ethnischer, kultureller und religiöser Selbstbestimmung“ die Rede. Immerhin wurden aber auch „unmenschliche Militäraktionen“ und „fortgesetzte Repressionspolitik Chinas“, ferner „schwere Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörungen sowie massive wirtschaftliche, soziale, rechtliche und politische Benachteiligungen der tibetischen Bevölkerung und letztlich die Sinisierung Tibets“ beanstandet. Obwohl er diese Resolution noch 1996 mit eingebracht hatte, äußerte sich der damalige Außenminister Fischer im Jahr 1998 weit karger. Er betonte die Zugehörigkeit Tibets zum chinesischen Staatsverband und fügte hinzu, die rot/grüne Bundesregierung sehe alle Unabhängigkeitsbestrebungen als Separatismus an, die sie nicht unterstützen werde. Auch die derzeitige Bundesregierung betrachtet Tibet als Teil des chinesischen Staatsverbandes, unterstützt aber den tibetischen Anspruch auf Autonomie, insbesondere im kulturellen und religiösen Bereich. Kontakte mit dem Dalai Lama werden offiziell nur in dessen Eigenschaft als einer der religiösen Führer Tibets aufgenommen.
Die Ereignisse in der jüngsten Zeit, insbesondere die erneuten Aufstände der Tibeter gegen das ihnen seit Jahrzehnten widerfahrende Unrecht, die brutalen und unwahrhaften Reaktionen der chinesischen Führung darauf einschließlich der Ermordung vieler Tibeter, der Vereufelung des Dalai Lama und der Ausweisung der westlichen Pressevertreter, sind bekannt.
Terror verbreitet China selbstverständlich auch gegenüber den eigenen Staatsbürgern: Regimekritiker werden verhaftet und wegen „Subversion“ oder anderer typischer Normen des Unrechtsstaates in Gefängnisse geworfen. Und wenn die chinesische Führung im Ausland Punkte sammeln will, entlässt sie unter gewaltigem Getöse einige ihrer Kritiker aus dem Gefängnis – während sie still andere neu inhaftiert.
Wenn überhaupt jemand geglaubt hat, China werde seine düsteren Vorgehensweisen durch die Vergabe der Olympischen Spiele ändern, war dies ein ebenso kindischer Irrglaube wie die Annahme, Deutschland werde durch die Olympischen Spiele 1936 positiv beeinflusst werden. Wirtschaftlich und politisch mächtige Diktaturen werden durch derlei appeasement ihren bösen Verhaltensweisen nur gefördert.
Vor allem wirtschaftliche Interessen sind es, die einen Boykott der Olympischen Spiele in China wenigstens durch einige Staaten mit Gewicht in der Weltgemeinschaft verhindern werden. Bleibt die schwache Hoffnung, dass der Westen sich immerhin zu einem Boykott der Eröffnungs- und Schlussfeier der chinesischen Spiele durchringen wird.