Die Hessen und Niedersachsen haben gewählt. In Hessen hat der Westentaschen-Machiavellist Roland Koch die verdiente Quittung für seinen Wahlkampf erhalten. Dies ist zugleich ein Misserfolg für Angela Merkel und die sie noch umgebenden männlichen Zeitgenossen wie Wolfgang Bosbach und Roland Pofalla, die sich nicht einmal indirekt von Koch distanziert hatten. Christian Wulff dagegen hat in Niedersachsen zwar Stimmen verloren, aber seine Regierungsmehrheit zusammen mit der FDP klar verteidigt. Aber auch er ist mehr der nette Schwiegersohn als ein Mann mit der Aura, die Wähler anzieht.
Die FDP verfügt ersichtlich über einen harten Kern von Stammwählern, dem die neoliberale Dürftigkeit dieser Partei und hohle Sprechblasen ihres Vorsitzenden („Die SPD will Volkseigentum, wir wollen ein Volk von Eigentümern“) offenbar gerade recht sind; es darf angenommen werden, dass es sich überwiegend um sozial unbekümmerte, so genannte „Besserverdienende“ handelt.
Die Grünen haben in Hessen Stimmen verloren, in Niedersachsen jedoch leicht hinzugewonnen. Sie sind zumindest in ihrer derzeitigen Verfassung ein Auslaufmodell, das noch von der Vergangenheit und der derzeitigen Schwäche der beiden großen Volksparteien zehrt; es ist eine Frage der Zeit, bis sich ihr Niedergang auch in Wahlergebnissen ablesen lassen wird.
Die SPD sieht wieder Licht am Ende des Tunnels. Sie sollte sich dabei allerdings nicht täuschen. Der Erfolg der Frau Ypsilanti in Hessen ist weitgehend auf die politische Selbstdemontage Roland Kochs zurückzuführen. Andererseits kann der Einbruch der SPD in Niedersachsen nicht nur dem eher farblosen Wolfgang Jüttner angelastet werden. Das eigentliche Problem der SPD zeigt sich an den Erfolgen der Linken in Hessen und Niedersachsen. Die Wähler der Linken im Westen sind weitgehend ehemalige, von den neoliberalen Anflügen der rot/grünen Bundesregierung enttäuschte SPD-Wähler.
Der von der wirtschaftlichen Globalisierung angefeuerte Markt-Fundamentalismus demonstriert seit geraumer Zeit seine zutiefst inhumane Ausrichtung. Die jüngsten Vorgänge um die Schließung des NOKIA-Werks in Bochum sind nur ein Beispiel dafür. Als Folge der weltweiten Seuche der Raffgier öffnet sich die Schere zwischen arm und reich immer mehr, und auch der ehemalige deutsche Mittelstand rutscht zunehmend in die Armut ab. Dies hat mit der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards und seiner Devise „Wohlstand für alle“ nicht mehr viel zu tun. Sprüche wie „Sozial ist, was Arbeit schafft“, die man von Vertretern der CDU und FDP noch immer hören kann, sind demgegenüber menschenverachtend und müssen allen, die ganztags für 4 oder 5 Euro in der Stunde arbeiten und von ihrer Arbeit würdig nicht leben können, als böser Zynismus erscheinen. Dabei haben wir die Konsequenzen der wild wuchernden, globalisierten Marktwirtschaft bisher noch nicht einmal mit voller Wucht zu spüren bekommen; vieles steht uns erst noch bevor.
In dieser Entwicklung, die Parteien wie die CDU/CSU und die FDP eher rechtfertigen als beanstanden, liegt die Aufgabe für die SPD des 21. Jahrhunderts, die sich nahtlos in ihre Tradition als Partei der Arbeitnehmer und der Benachteiligten einfügt. Es ist dringend an der Zeit, dass die SPD dies erkennt, sich auf ihre Wurzeln besinnt und sich den Aufgaben stellt, die der alles Humane verschlingende, globalisierende Kapitalismus mit sich bringt. Daher sollte – auch nach der Auffassung eines Bill Gates und eines Hubert Burda – immerhin jetzt darüber nachgedacht werden, wie der Kapitalismus so gestaltet werden kann, dass er allen nutzt. Dazu aber ist primär die Politik aufgerufen, welche die Rahmenbedingungen für die Aktivitäten der Wirtschaft zu bestimmen hat. Und dieses Nachdenken hat die SPD in den letzten Jahren allzusehr Oskar Lafontaine überlassen.
Nicht einer Renaissance sozialistischer oder gar kommunistischer Systeme sei hier das Wort geredet, sondern einer sozialen Marktwirtschaft, die auf nationaler und internationaler Ebene das freie Spiel der Kräfte im Sinne eines ausbeutungsfreien menschlichen Miteinanders reguliert und allen Marktteilnehmern, auch den abhängig Beschäftigten, eine angemessene Teilhabe am Erfolg gewährt.
Zugleich liegt im Turbo-Kapitalismus die Chance für die SPD. Die Zeit, in der ihr die gut verdienenden Arbeiter und Angestellten fortliefen und die CDU/CSU, die FDP oder die Grünen wählten, ist vorbei; längst hätte angesichts des forcierten Abbaus des Sozialen in der Marktwirtschaft eine rückläufige Bewegung und damit eine Wiedererstarkung der SPD stattfinden können – wenn die vielen vom Markt-Fundamentalismus achtlos zur Seite gewischten Menschen, an denen wirtschaftliche Aufschwünge inzwischen zuverlässig vorbeigehen, denn darauf vertrauen könnten, dass die SPD ihre Interessen nachhaltig wahrnimmt. Der Erfolg der Linken ist der schlagende Beweis dafür, dass dieses Vertrauen derzeit nicht existiert. Christian Wulff hatte Recht, als er in der Wahlnacht darauf hinwies, die SPD habe durch ihre Schwäche die Linke stark gemacht.
Die SPD sollte daher nunmehr alles tun, um sich den Aufgaben unserer Zeit mehr als bisher zu stellen, die von ihr frustrierten Wähler zurück zu gewinnen und auf diese Weise die Partei links von ihr auszutrocknen. Dies kann auf zweierlei Wegen geschehen:
Zum ersten sollte die SPD die Programmatik der Linken sorgfältig durchforsten und sich die vernünftigen Positionen zueigen machen, und davon gibt es einige. Der Volkstribun Lafontaine ist ein gnadenloser Populist, aber er ist intelligent und hat den Finger nicht selten tatsächlich auf der Wunde; dies haben die Wähler der Linken durchaus richtig erkannt. Seiner Forderung zum Beispiel nach einer Regulierung der internationalen Kapitalströme hat sich nicht zufällig sogar der berühmte, steinreiche Spekulant George Soros angeschlossen. Ein weiteres Beispiel ist die von Lafontaine geforderte Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen. Diese kann Lohnerhöhungen substituieren, die angesichts des ausländischen Konkurrenzdrucks unvertretbar sind. Die SPD ist bisher über diesbezügliche Lippenbekenntnisse nicht hinausgekommen. Auch die Forderungen nach international durchzusetzenden Mindestlöhnen und einem Ende des internationalen Steuerdumpings sind alles andere als unvernünftig. Derartige Forderungen lediglich in Parteiprogramme aufzunehmen, aber nicht offensiv zu vertreten, ist als Strategie ungenügend.
Zum Zweiten sollte die SPD ihre trotzige Strategie der strikten Verweigerung jeder Zusammenarbeit mit der Linken in Hessen gründlich überdenken, zumal sie bekanntlich auch in Berlin bereits mit der Linken regiert. Man kann Mitbewerber auch ersticken, indem man sie umarmt. Wie so etwas geht, hat Frau Merkel in den ersten zwei Jahren der Großen Koalition lange Zeit erfolgreich bei der SPD demonstriert.
Freilich bedürfte es eines Vordenkers, der eine Programmatik der SPD für das 21. Jahrhundert einschließlich der entsprechenden Strategien entwirft und die alte Tante wieder auf den Weg zum Erfolg bringt. Die SPD leidet seit geraumer Zeit unter einem Mangel an Personal, das dazu in der Lage wäre und sollte sich schnell nach geeigneten Personen umsehen, die durchaus Quereinsteiger sein können. Allein wird der vielfach belastete Kurt Beck diese Aufgabe kaum schultern können. Immerhin aber hat er die ersten Schritte in die richtige Richtung veranlasst. Vielleicht ist ihm doch noch mehr zuzutrauen.