Die von Ludwig Erhard und anderen im 20. Jahrhundert entwickelte Soziale Marktwirtschaft beruht auf Grundgedanken des Adam Smith und anderer Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts, wonach das eigennützige Verhalten des freien Individuums zu einer maximalen Produktivität führt. Diese Freiheit wird bei der Sozialen Marktwirtschaft durch eine staatliche Wirtschaftsordnung ergänzt, die dafür Sorge trägt, dass marktbeherrschende Stellungen und andere Zugangshürden verhindert oder zumindest kontrolliert werden, die einer ungehinderten wirtschaftlichen Betätigung des Einzelnen – einschließlich der angemessenen Realisierung des Tauschwertes der Arbeit – entgegenstehen. Dieses Konzept sollte automatisch zu einem maximalen und zugleich sozial ausgewogenen Wohlstand aller führen.
Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft waren die von Bismarck in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführten und in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts weiter ausgebauten staatlichen Sozialleistungen (Renten-, Kranken- und Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung) und die Existenz der Gewerkschaften, welche die Arbeitnehmerinteressen wahrnahmen. Diese Rahmenbedingungen wurden ergänzt durch das in Art 20 des deutschen Grundgesetzes verankerte Sozialstaatsprinzip und durch das 1958 eingeführte Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB).
Nicht zuletzt aber basierte der Gedanke der sozialen Marktwirtschaft wesentlich auf gelebten ethischen Prinzipien, die sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und der damit einhergehenden Not weiter Bevölkerungskreise Deutschlands noch lange als tragfähig erwiesen. Sie hatten ihre Grundlage auch in den Verhaltensregeln der christlichen Religionsgemeinschaften, die in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg noch einen größeren Einfluss auf die Menschen hatten als heute. Aus alledem resultierten ein Gefühl der Zusammengehörigkeit der in Deutschland Lebenden und eine Bereitschaft zur gegenseitigen Rücksicht und Hilfe auch außerhalb der Familiengrenzen. Das Unternehmen galt weithin als eine Art Großfamilie, bei welcher der Inhaber sich für seine Mitarbeiter verantwortlich fühlte und diese ihrerseits für das Ganze arbeiteten. Es war durchaus nicht unüblich, ein Berufsleben lang nur für ein Unternehmen tätig zu sein; noch vor einigen Jahren galt etwa die Aufnahme einer Beschäftigung bei der Siemens AG als eine Art Lebensversicherung. Auch die Gewerkschaften entsprachen durch mäßige Lohnforderungen und eine geringe Streikbereitschaft dem Grundsatz der Kooperation der gesellschaftlichen Kräfte.
Dieses Gesellschaftsmodell erwies sich als außerordentlich erfolgreich. Die deutsche Marktwirtschaft bewies ihre Leistungsfähigkeit, und Ludwig Erhards Devise „Wohlstand für alle“ schien in den sechziger Jahren Realität zu werden. Die Einkünfte des Kapitals, aber auch die Lohneinkünfte waren stetig gestiegen, und Arbeitslosigkeit war in Deutschland noch kein erhebliches Problem. Wirtschaftlich war Westdeutschland eine Insel der Seligen. Ähnliches galt für viele andere Industriestaaten, die das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft übernahmen. Zwar gab es auch in jenen Jahren bereits Raffgier und nicht geahndete Verstöße gegen das Kartellrecht; bestimmte Produkte wurden jahrzehntelang von verschiedenen Anbietern seltsamerweise stets zu gleichen Preisen abgesetzt, ohne dass die Kartellbehörden jemals eingegriffen hätten. Aber all dies hielt sich noch in sozialverträglichen Grenzen.
In der Folgezeit traten allerdings Entwicklungen ein, die das Erreichte in Frage stellten und zu einer erheblichen Krise der Sozialen Maktwirtschaft geführt haben.
Ein nachlassendes Wirtschaftswachstum in den Industriestaaten, eine zunehmende Staatsverschuldung, demografische Änderungen, aufgrund derer immer weniger Berufstätige immer mehr Rentner finanzieren mussten, die sich rasch ausbreitende wirtschaftliche Globalisierung und ein beständiger Anstieg der Arbeitslosigkeit – all dies belastete die Staatshaushalte wesentlich. Folge dieser Änderungen waren Reformen, die Einschnitte in die Leistungen des Sozialstaates zum Gegenstand hatten. Überdies zeigte sich in den Industriestaaten eine Tendenz, staatliche Unternehmen und sonstige – traditionell von der öffentlichen Hand betriebene – Einrichtungen auch der Daseinsfürsorge zu privatisieren, um dem Staat durch die entsprechenden Verkäufe Einnahmen zu verschaffen, wobei nicht immer ausreichend Vorsorge gegen die Entstehung und Ausnutzung marktbeherrschender Stellungen getragen wurde.
Gleichzeitig entwickelte – begünstigt durch den weitgehenden Zusammenbruch der kommunistischen und sozialistischen Systeme und die wirtschaftliche Globalisierung – der Aspekt der Sozialen Marktwirtschaft eine ungebremste Eigendynamik, der in dem Ziel des Einzelnen besteht, sich zu bereichern. Die in früheren Jahrhunderten noch verbreitete Beschränkung dieses Ziels darauf, für sich und die eigene Familie den angemessenen Lebensunterhalt – einschließlich einer befriedigenden Altersversorgung – zu verdienen, ging verloren. Die finanzielle Gier wurde immer grenzenloser und hat in bestimmten Kreisen inzwischen ein Ausmaß erreicht, in der es in keiner Weise mehr von Bedeutung ist, ob man während seiner Existenz überhaupt noch in der Lage sein wird, das Gewonnene jemals auszugeben. Stattdessen ist ein Wettlauf der Profitgierigen entstanden, bei dem es primär darauf ankommt, in möglichst kurzer Zeit mit der geringsten Leistung das größte Vermögen anzuhäufen. Solange es andere gibt, die mehr haben als man selbst, ist diese Raffgier unbefriedigt. Dabei spielt es kaum noch eine Rolle, mit welchen Mitteln die Gewinne gescheffelt und welche Schäden anderen im Zusammenhang damit zugefügt werden. Diese weitgehende Aufkündigung ethischer Grundregeln wurde durch die abnehmende Bedeutung der christlichen Religionsgemeinschaften und ihrer Wertekanons begünstigt. Betrachtet man die Rücksichtslosigkeit, mit der bei der Profitmaximierung heute nicht selten vorgegangen wird, so gewinnt man bisweilen den Eindruck, die einzige noch intakte Hemmschwelle vieler „Player“ bestehe in dem Grad der Gefahr, im Zusammenhang mit dem jeweiligen Coup zivil- oder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.
Die Lage wird dadurch verschärft, dass die Raffkes sich nicht etwa bei Erreichung eines bestimmten Alters einer ausgiebigen Phase der Kontemplation und der Beratung Jüngerer bei deren Reifungsprozess zuwenden, wie es bewährte Lebensmodelle aus gutem Grund vorsehen. Nein, es ist nie genug, und deshalb wird gescheffelt bis zum Umfallen.
Zwar werden die Vertreter der Wirtschaftverbände nicht müde, darauf hinzuweisen, dass beileibe nicht alle in den deutschen Führungsetagen derart rüde vorgehen, und es gibt tatsächlich viele, die noch immer verantwortungsvoll handeln. Aber die Behauptung, es seien nur einzelne schwarze Schafe zu beklagen, wird der Realität leider auch nicht gerecht.
Der mit der vielfachen Enthemmung derer „da oben“ verbundene gesellschaftliche Schaden kann kaum überschätzt werden. Zum einen hat sie in einem so reichen Land wie Deutschland bereits dazu geführt, dass heute große Teile der Bevölkerung in die Armut abrutschen und auf staatliche Sozialhilfeleistungen angewiesen sind. Nach einer neuen Studie des Instituts für Wirtschaftsförderung besitzen die reichsten zehn Prozent der Deutschen fast zwei Drittel des Volksvermögens, die Mehrheit hat dagegen fast nichts. Zum anderen ist inzwischen auch bei den wirtschaftlich schlechter Gestellten ein galoppierender Verfall der Sitten festzustellen. Was mit „Kavaliersdelikten“ wie geringfügiger Steuerhinterziehung und kleinem Versicherungsbetrug begann, weitete sich zu einer grassierenden Erschleichung von Sozialleistungen aus. Während die Schäden aus solchen Manipulationen noch den Staat und vergleichsweise anonyme, große Gesellschaften trafen, sind Betrügereien inzwischen zunehmend auch im Verkehr der wirtschaftlich schlechter Gestellten untereinander festzustellen, abzulesen etwa an der sinkenden Qualität der Transaktionen über Gebrauchtwaren bei „ebay“. All dies ist zweifellos auch eine Reaktion der „kleinen Leute“ auf die immer wieder bekannt werdenden Fälle schamlosen Verhaltens von Personen mit hohen Einkünften und großen Vermögen.
Auf diese Weise droht der oben skizzierte kooperative Grundkonsens in Deutschland verloren zu gehen. Angesichts der gewaltigen Herausforderungen, denen sich unsere Volkswirtschaft als Folge der galoppierenden wirtschaftlichen Globalisierung noch ausgesetzt sehen wird, ist dies eine ungute Entwicklung.
In dieser Lage ist ein drastisches Gegensteuern seitens der deutschen Politik seit langem überfällig. Dies gilt etwa für die – angesichts der unverantwortlichen Preisgestaltung der marktbeherrschenden, in Milliardengewinnen schwimmenden großen deutschen Strom- und Gasversorger seit Jahren erforderliche – Rückführung der Energieversorgungsnetze in öffentliches Eigentum, nachdem in diesem Markt ein Wettbewerb, der diesen Namen verdient, ersichtlich nicht zustande kommt. Die Ablehnung des entsprechenden Vorhabens der Europäischen Union nicht zuletzt durch die deutsche Bundesregierung ist vor dem Hintergrund ihrer inzwischen jahrelangen Untätigkeit in diesem Bereich nicht weniger als skandalös. Diese Untätigkeit fordert andere förmlich dazu heraus, es den Strom- und Gasversorgern in vergleichbaren Sektoren unausweichlich notwendiger Güter gleichzutun – eine Gefahr, die angesichts des fortschreitenden Konzentrationsprozess in der deutschen Wirtschaft immer größer wird. Die neueste Entwicklung der Heizöl- und Dieselpreise deutet an, wohin die Reise geht – auch sie beflügelt durch den Staat, der an allen Preiserhöhungen still mitverdient.
Misst man die Inflation an den Gütern, die der durchschnittliche Verbraucher andauernd erwerben muss, sind die Preise in Deutschland im Jahr 2007 um etwa 10 % gestiegen – ein Preisanstieg, der die vielen sozial Schwachen im Lande ungeheuer trifft. All dies fördert den Verlust des Vertrauens weiter Teile der deutschen Bevölkerung darin, dass es in unserem Lande noch gerecht zugeht.
Das Kartellrecht erweist sich nur allzu oft als stumpfes Schwert, wenn in einem Markt erst einmal oligopole Strukturen vorhanden sind. Gleiches gilt für die Aufdeckung der „großen“ Wirtschaftskriminalität. In all diesen Fällen ist der Staat bei der Aufdeckung von Gesetzesverstößen schlicht überfordert, zumal in der globalisierten Wirtschaft bei einigem Geschick vieles gründlich vernebelt werden kann. Zentrale Aufgabe des Staates ist es daher, in seinem Hoheitsgebiet die Entstehung von Ausgangslagen bereits im Ansatz zu verhindern, die marktbeherrschende, den Wettbewerb gefährdende Stellungen herbeiführen – und sie zu beseitigen, wenn sie aus welchen Gründen auch immer entstanden sind. Und soweit international entsprechende Maßnahmen erforderlich sind, sollte der Staat darauf dringen, sie durchzusetzen und sie nicht blockieren. Allein das entspricht einer Sozialen Marktwirtschaft, die diesen Namen verdient. Einflüsterungen der Wirtschaft, die Globalisierung mache starke nationale Konzerne unumgänglich, sind demgegenüber mit äußerster Vorsicht zu genießen.
Frau Merkel täte demnach gut daran, ihrer Schelte gegenüber der Wirtschaft in Sachen Vorstandsbezüge und -abfindungen ein gehöriges Maß an Selbstkritik hinzuzufügen und ihrer Verantwortung gegenüber der deutschen Bevölkerung nunmehr gerecht zu werden.
Wer hinsichtlich der Vorstandsbezüge und -abfindungen generell nach Maßnahmen des deutschen Gesetzgebers ruft, übersieht, dass bereits die bestehenden aktienrechtlichen und strafrechtlichen Normen durchaus Hebel gegen Missbrauch böten, wenn sie denn nur konsequent interpretiert und angewendet würden. Just das geschieht aber in der Praxis viel zu wenig. Vernünftig erschiene allerdings eine stärkere Beteiligung der Aktionäre bei der Festlegung der Vertragsbedingungen für die Vorstände. Dabei sollten langfristige Verträge weitgehend vermieden werden, da sie es sind, die bei vorzeitiger Beendigung des Vertragsverhältnisses immer wieder als Hebel für gewaltige Abfindungen dienen. Dies umso mehr, als langfristige Verträge dem inzwischen häufigen Wechsel des Führungspersonals in den Großunternehmen ohnehin nicht mehr entsprechen.
Auch im Bereich des flächendeckenden Mindestlohns ist eine gesetzliche Regelung sinnvoll, da der Maßstab der Sittenwidrigkeit allzu unbestimmt ist; aus ihm kann man, wie Heribert Prantl in der SZ kürzlich zutreffend bemerkte, nur herausholen, was man vorher (präziser: gleichzeitig) hineinsteckt. Ein solcher allgemeiner Mindestlohn ist ungeachtet allen neoliberalen Getöses unverzichtbar. Wer seine gesamte Arbeitskraft einsetzt, muss von seinem Lohn angemessen leben können – eine Forderung, die ebenso für die Beschäftigten in den derzeitigen Billiglohnländern gelten und international durchgesetzt werden sollte. Es darf nicht sein, dass Unternehmen, wie es in Deutschland soeben pin und TNT versucht haben, ihre Gewinne bereits konzeptionell auf die Ausbeutung ihrer Arbeitnehmer gründen – einer Ausbeutung, die dann vom Staat ausgeglichen werden muss. Es gibt Mindestbedingungen menschlichen Miteinanders, die auch und gerade gegenüber so genannten wirtschaftlichen Zwängen durchgesetzt werden müssen; dies sollte spätestens seit den Auswüchsen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert klar geworden sein. Auch damals liefen die Wirtschaftsliberalen Sturm gegen die notwendigen Korrekturen. Dass diese in den globalisierten, multinationalen Wirtschaftsräumen politisch schwerer durchsetzbar sind als in den engeren Räumen des 19. Jahrhunderts, ändert nichts an ihrer Notwendigkeit. Einflussreiche Staaten wie Deutschland sollten daher entschiedener für sie eintreten als bisher. Die Politik muss ihre Gestaltungsaufgaben auch im 21. Jahrhundert wahrnehmen, soweit sie dazu in der Lage ist. Sie ist nicht der Büttel der Wirtschaft.
Freilich gilt für den Ruf nach strikter Anwendung bestehender und dem Erlass neuer Gesetze unglücklicherweise die Weisheit schon des Lao-Tse im Tao Te King, einem der Bücher, die auf keiner Insel fehlen sollten:
„Wird Gesetzmäßigkeit verlassen,
werden Gesetze verhängt.
Gesetze schaffen gesetzliche Vorgänge.
Gesetzliche Vorgänge führen zu Zerfall.“
Gemeinwesen, die ihre Kraft nicht aus der menschenfreundlichen Haltung ihrer Bewohner herleiten, sondern der Einhaltung von Gesetzen überlassen, sind dauernd nicht überlebensfähig.
Was aber jenseits gesetzlicher Grenzen ist beispielsweise Vorständen entgegenzuhalten, die eine Erhöhung ihrer ohnehin opulenten Bezüge um 30 % durchsetzen wollen, während sie Arbeitnehmer mit der Begründung auf die Straße setzen, der Aufwand des Unternehmens müsse gesenkt werden? Man könnte sie darauf hinweisen, dass sie wie jeder Mensch als soziales Wesen strukturiert sind, das die emotionale und sonstige Zuwendung seiner Mitmenschen benötigt wie der Fisch das Wasser. Hinzuzufügen wäre, dass reifes Leben Nehmen und Geben voraussetzt und der schrankenlos Raffgierige letztlich schnöde all die ausbeutet, die weniger egomanisch denken, fühlen und handeln als er, und dass er durch sein emotional armes Verhalten seine Ehre und Würde weit unter Wert verscherbelt und so einen Schaden davonträgt, der durch Geld nicht kompensiert werden kann. Derlei Mahnungen wären jedoch schon deshalb wenig aussichtsreich, da der selbst ernannte „homo sapiens“ erwiesenermaßen über eine stupende Fähigkeit zur Rationalisierung seines Handelns und zur Verdrängung sogar weit größerer Untaten verfügt, als sie hier zur Debatte stehen.
Was bleibt, ist eine alte, nicht nur buddhistische Weisheit: Wer verstanden hat, was im Menschenleben wichtig ist, sorge vor allem dafür, dass sein eigenes Tun dem entspricht. Es wird auf andere ausstrahlen. Die wirklich Großen dieser Welt, denen eine Überfülle irdischer Güter nicht zufällig gleichgültig war oder ist, haben bewiesen, welch segensreiche Wirkungen ein solches Strahlen haben kann. Im Übrigen kann man gelassen feststellen, dass die Raffgier keine neue Erscheinung, vielmehr eine uralte Bruchstelle der menschlichen Vernunft ist, und sich ein wenig darüber freuen, dass sie in Deutschland – anders als in weiten Teilen der restlichen Welt – immerhin noch intensiv öffentlich diskutiert wird.