Als Ludwig Erhard die deutsche soziale Marktwirtschaft organisierte, meinte er, preissenkenden Wettbewerb durch das Kartellrecht sichern zu können. Dabei sah er dreierlei nicht voraus:
Zum einen verlangt Wettbewerb nicht zwingend die Unterbietung der Preise der Konkurrenz, gleich hohe Preise stellen daher noch keinen genügenden Beweis für einen Kartellverstoß dar. Es bedarf vielmehr des Nachweises über illegale Preisabsprachen der beteiligten Unternehmen. Solche Nachweise aber gelingen seit jeher nur selten.
Zum zweiten erreichten die bei Aufdeckung kartellwidriger Absprachen verhängten Sanktionen regelmäßig nicht die Höhe der aus dem unzulässigen Verhalten hergeleiteten finanziellen Vorteile, was die Effektivität der kartellrechtlichen Drohung weiter verminderte.
Zum dritten tendiert, wie schon Karl Marx 100 Jahre vor Ludwig Erhard feststellte, die kapitalistische Wirtschaft zum wettbewerbslosen Monopol. Die heutige Wirklichkeit ist weitgehend noch von Oligopolen geprägt, die jedoch in Sachen Preise dann einem Monopol gleichkommen, wenn die Mitglieder diese chronisch nach oben aneinander angleichen. Und das geschieht: Oligopolisten haben kein Interesse an preislichen Unterbietungen der Konkurrenz, die nur Gewinn mindernde Spiralen nach unten in Gang setzen würden. Sie beschränken ihren Wettbewerb vielmehr auf Anderes – bei Verbrauchermärkten auf Standorte, Marktgrößen, Parkplätze, Warendarbietung, Werbung mit kurzfristigen Sonderaktionen, etc..
In Deutschland bestehen Oligopole, bei denen sich wenige Anbieter den Markt teilen, schon seit Jahrzehnten unter anderem im Bereich der Spritanbieter und der Lebensmittelmärkte. Die Preise der ersteren weichen zwar seit jeher wechselnd leicht voneinander ab, sind aber auf wunderbare Weise im Wesentlichen immer gleich hoch. Die Anbieter argumentierten stets, dies sei eine bloße Folge ständiger Marktbeobachtungen und Angleichungen an die (hohen) Preise der „Konkurrenten“ – Wettbewerb pervers. Nie gelang es den Kartellbehörden, kartellrechtlich unzulässige Preisabstimmungen zwischen ihnen nachzuweisen, zumal offenbar ein äußerst intelligentes, an eine Lostrommel erinnerndes System etabliert wurde, das immer wieder zu wechselnden, geringfügigen Preisunterschieden führt; mal ist Jet (Phillips66) etwas billiger, dann Shell und Esso und so fort. Immerhin aber orientierten sich die Preise für Benzin und Diesel stets an der jeweiligen Höhe der Erdölpreise, was für halbwegs maßvolle Preise an den Tankstellen sorgte.
Die deutschen Lebensmittelpreise blieben – auch im internationalen Vergleich – jahrzehntelang niedrig, obwohl auch die großen Anbieter Aldi, Edeka, Lidl und Rewe sich schließlich kaum noch Preiskämpfe lieferten; vielmehr glichen auch sie ihre Preise regelmäßig aneinander an. Die von allen erwirtschafteten, kräftigen Gewinne wurden nicht zuletzt durch eine weitgehende Knebelung der Lieferanten erzielt. Der Landwirtschaft ging es infolgedessen wirtschaftlich schlecht.
Dann aber plante die Bundesregierung, wegen der Klimakrise Sprit von Jahr zu Jahr höher zu besteuern, zeigte also keine Einwände gegen höhere Preise – und es dauerte nicht lange, bis man in den Vorstandsetagen der Mineralölkonzerne beschloss, sich dies zunutze zu machen. Während ein Liter Super E10 zu Anfang des Jahres 2021 noch kaum mehr als 1,20 Euro pro Liter kostete, wurde der Preis von allen Anbietern gleichermaßen (!) binnen kurzer Zeit auf phantastische Höhen von mehr als 2 Euro katapultiert, wobei die Orientierung am (dies nicht rechtfertigenden) Rohölpreis still in der Versenkung verschwand, obwohl auch die großen Raffinerien in der Hand der Mineralölkonzerne sind. Und die von der Ampelkoalition gewährte dreimonatige Steuererleichterung wurde an die Verbraucher nur teilweise weitergegeben, frecher ging es nicht. Schließlich verzichtete die Ampel sogar auf die für das Jahr 2023 vorgesehene Steuererhöhung – im Ergebnis zugunsten der Mineralölindustrie.
Als Folge explodierten die Gewinne der Mineralölkonzerne, ohne dass die Ampelkoalition auf all das in irgendeiner Weise reagierte. Der Wirtschaftsamateur Habeck murmelte zwar kurzzeitig etwas über eine Verschärfung des Kartellrechts, was Kennern der Materie jedoch allenfalls ein müdes Lächeln abgewann; der kartellrechtliche Ansatz war und ist nun einmal nicht mehr als ein stumpfes Schwert. Habecks laienhaftes Vorhaben verpuffte denn auch schnell im Nichts. Die hohen Energiekosten beflügelten die ohnehin bereits 2% übersteigende Inflation, was die EZB entgegen ihrem Auftrag, für Preisstabilität zu sorgen, allzu lange nicht veranlasste, den Leitzins anzuheben; sie nahm damit vor allem Rücksicht auf die Wirtschaft und die weitere Finanzierung der hoch verschuldeten EU-Staaten, allen voran Italien. Noch heute ist der Leitzins mit 2,5% (Stand 16.12.2022) angesichts der hohen Inflation viel zu niedrig.
Auch die Anbieter von Lebensmitteln erhöhten ihre Preise in den letzten zwei Jahren enorm, selbstredend alle zur gleichen Zeit und in gleichem Maße. Hier aber lagen den Preiserhöhungen zum Teil gestiegene Erzeugerpreise zugrunde; der Index der Erzeugerpreise für pflanzliche und tierische Erzeugnisse (2015 = 100) stieg in der Zeit vom Januar 2021 bis zum Oktober 2022 von 106,8 auf immerhin 166,5. Die Inflation insgesamt wuchs auf sagenhafte rund 10 %, überstieg diesen Satz jedoch bei Lebensmitteln des täglichen Verbrauchs sogar weit; diesbezügliche Preiserhöhungen haben inzwischen bei zahlreichen Produkten bis 80 % und mehr erreicht. Dabei sind die die Anbieter von Lebensmitteln in vielen Fällen offensichtlich weit über das Unvermeidliche hinausgegangen. Soweit erkennbar, haben alle Oligopolisten schon im Jahr 2021, aber auch im Jahr 2022, nicht nur ihre Umsätze mit Lebensmitteln, sondern auch ihre entsprechenden Gewinne deutlich gesteigert.
Für die Bedürftigen, die sich für die Anhebung ihres „Bürgergelds“ um rund 50 Euro monatlich buchstäblich kaum etwas kaufen können, ist diese Entwicklung eine Katastrophe. Die Verbraucher haben ja keine andere Wahl als bei den Oligopolisten zu kaufen, die ihre immer höheren Preise fortwährend aneinander anpassen – mit der Folge, dass nun auch der untere Mittelstand in die Armut abzugleiten droht. Die Süddeutsche Zeitung formulierte die Folgen unlängst so: „Hohe Inflation verstärkt die Ungleichheit und zersetzt den Kitt der Gesellschaft.“
Und wie geht es weiter? Die EZB erwartet für 2023 insgesamt eine Inflation von jährlich 6,3 % und eine Rückkehr zu 2 % frühestens für das Jahr 2026, aber beides ist nicht mehr als – von der Bundesbank nicht geteiltes – Wunschdenken und erfasst die Preiserhöhungen für Gegenstände des alltäglichen Verbrauchs wegen des großen Warenkorbs nur zum Teil. Die absurd hohen Preise für Benzin und Diesel wurden zwar in den letzten Monaten sukzessive reduziert, befinden sich aber noch immer weit jenseits des Akzeptablen, sind also kein verlässliches Anzeichen für eine nachhaltige Trendumkehr.
Motor der kapitalistischen Wirtschaft ist die Gier, und es ist zu befürchten, dass wir soeben einen Dammbruch erlebt haben, der die Zurückhaltung der Anbieter in beiden geschilderten Bereichen Vergangenheit hat werden lassen und die Grundlagen des gesellschaftlichen Miteinanders weitergehend in Frage stellt, als wir es uns heute vorstellen wollen und können. Dies umso mehr, als die FDP ebenso wie die CDU/CSU hartnäckig an einem längst überholten, unverantwortlichen Liberalismus festhält. Es sind wahrlich nicht nur die Klimakatastrophe, die Erosion der Artenvielfalt und der Verbrecher im Kreml, die uns bedrohen.