Fast 77 Jahre lang herrschte Frieden in Europa, wenn man von den Waffengängen auf dem Balkan absieht. Für die Bevölkerungen der westlichen europäischen Staaten war anderes kaum noch vorstellbar. Lange schien das Prinzip Wandel durch Annäherung, insbesondere durch wirtschaftliche Verflechtungen mit autoritären Staaten, ja auch erfolgreich zu sein. Der Pazifismus nährte sich davon.
Mit Russland unter Wladimir Putin funktionierte dieser Wandel nicht, was die Verfechter einer Kooperation trotz der vom russischen Gewaltherrscher gesendeten Signale allzu lange und gern übersahen. Die willkürlichen Inhaftierungen und die Ermordungen von Regierungskritikern, vor allem aber die Annektierung der Krim und der rücksichtslose Ausbau des russischen Einflusses in der östlichen Ukraine bereits vor einer Reihe von Jahren, waren überdeutlich. Auch China rechtfertigt übrigens insoweit keinerlei Vertrauen.
Diese Sorglosigkeit galt für die Politik ebenso wie für die Wirtschaft, die unter dem Einfluss der an kurzfristigen Erfolgen orientierten Erfolgsprämien für das jeweilige Management vor allem an schnellen Profiten interessiert ist und daher immer kurzfristiger plant. Auch die in China aktiven Unternehmen, die bedenkenlos ihr know how dorthin exportiert haben, werden es schwer büßen.
Nun ist wieder Krieg in Europa, ein besonders grausamer dazu, und die Frage, ob der Westen sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehr um die Sicherheitsinteressen Russlands hätte bemühen sollen, ist obsolet geworden, zumal der russische Diktator seit jeher geradezu davon besessen ist, das untergegangene Reich wiederherzustellen. Und der Westen reibt sich aus mehreren Gründen erschrocken die Augen.
Zwar ist Putins Kalkül, die westlichen Länder würden sich unschwer auseinander dividieren lassen, bislang nicht aufgegangen, da der Transatlantiker Joe Biden die NATO entschlossen gegen Russland in Stellung gebracht hat, die Ukraine mit enormen Summen unterstützt und die EU-Staaten dazu motiviert hat, Ähnliches zu tun. Aber diese Haltung ist in den USA nicht sonderlich populär und wird vermutlich ein Ende finden, wenn wie zu erwarten die Republikaner die kommenden Wahlen in den USA gewinnen und auch der nächste US-Präsident ein Republikaner wird, womöglich gar wieder der unsägliche Donald Trump. Seine Doktrin „America first“ und seine Vorbehalte gegen die NATO sind reichlich bekannt. Werden die Republikaner beispielsweise das Baltikum verteidigen und dabei einen Weltkrieg riskieren, wenn Putin darüber herfällt?
Auch hat der Krieg gegen die Ukraine erneut den desolaten Zustand der Wehrhaftigkeit der EU-Staaten, allen voran Deutschlands, offenbart. Die von Olaf Scholz angekündigte Finanzspritze von 100 Milliarden Euro wird daran in Deutschland nicht viel ändern, zumal die Grünen und die SPD die genannte Summe nur zum Teil für die Aufrüstung verwenden wollen, und die zuständigen Behörden nicht einmal in der Lage gewesen sind, ein Tankschiff zu einem akzeptablen Preis zu ordern.
Der verbrecherische Krieg Russlands gegen die Ukraine tobt unterdessen weiter, wobei der Westen die Ukraine durch Geld und Lieferung von Kriegsmaterial in erheblichem Maße unterstützt. Völkerrechtlich ist einigermaßen unklar, unter welchen Umständen Hilfeleistungen anderer Staaten gegenüber der Ukraine die Unterstützer zu Kriegsparteien machen. Olaf Scholz hat daher lange gezögert, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Habermas hat dafür zwar Sympathie, letztlich aber auch nur Ratlosigkeit offenbart.
Schließlich hat der Bundeskanzler sich dazu durchgerungen, der Ukraine doch schweres Gerät zu liefern. Der Protest dagegen in Deutschland ist kurzsichtig, da ein Sieg Russlands gegen die Ukraine Putin vermutlich – umso mehr, wenn die Republikaner in den USA regieren – veranlassen wird, weitere Länder zu überfallen und Europa dann – bei geschwächter oder ausfallender NATO – jahrelang im Krieg versinkt. Dieses Risiko minimiert man nicht, indem man die Ukraine opfert. Und der russische Gewaltherrscher bestimmt ohnehin allein den Zeitpunkt, in dem er die er westlichen Staaten als Kriegsparteien ansieht und einen Dritten Weltkrieg beginnt – was er vermutlich ebenso wenig tun wird wie kleine Atomwaffen in der Ukraine einsetzen.
Die Realität holt uns vom langen Frieden Verwöhnte ein. Stellen wir uns ihr unverzagt. Und rüsten wir auf. Der Pazifismus ist nicht mehr als eine romantische Illusion, solange Staaten wie Russland und womöglich bald auch China (Taiwan!) ihr expansives Unwesen treiben.