Die jüngste und größte der Weltreligionen, der Kapitalismus, braucht keine Kirchen, Synagogen oder Moscheen, seine Tempel sind die Köpfe der Menschen. Auch verzichtet er darauf, Hoffnung auf eine Wiedergeburt oder ein Fortleben im Jenseits zu erzeugen, vielmehr genügt ihm das Diesseits vollauf. Eine Erlösung, die zugleich alle Sünden vergibt, kennt er allerdings: Das Wirtschaftswachstum.
Dieses mag mit noch so fatalen Folgen, insbesondere erhöhtem Ressourcenverbrauch und gesteigertem CO2-Ausstoß, verbunden sein – sie lassen den ehernen Glaubenssatz der religiösen Fanatiker ungerührt. Und so verwundert es auch nicht, dass die bloße Gefährdung deutschen Wirtschaftswachstums selbst in Zeiten des brutalen russischen Überfalls auf die Ukraine und des dortigen Wütens der russischen Soldaten weithin als deutsches Armageddon betrachtet wird. Dies, obwohl die Arbeitslosigkeit hierorts vergleichsweise gering ist und die großen DAX-Unternehmen soeben für das Pandemie-Jahr 2021 Dividenden in Höhe von sage und schreibe 50 Milliarden Euro an ihre Aktionäre ausschütten.
Die Experten erwarten überdies trotz der Ukraine-Krise und der Pandemie für das Jahr 2022 noch immer ein zweiprozentiges Wirtschaftwachstum – und bereits weil das Wachstum im ersten Quartal des Jahres nur 0,2 Prozent betrug, meint Alexander Hagelüken in der Süddeutschen Zeitung vom 30.4./01.5.2022, die deutsche Wirtschaft sei „entkräftet“, gar „lahm gelegt“, und malt an die Wand, es könne noch schlimmer kommen? Dies ist nur eine von vielen ähnlichen Äußerungen, die Wirtschaftswachstum als absolutes „must“ ansehen. Plausibilität wird eben, worauf Armin Nassehi unlängst in anderem Zusammenhang hingewiesen hat, „durch Wiederholung und Bestätigung hergestellt.“
Man muss sich das einmal vor Augen führen: Während zahllose Menschen in der Ukraine unvorstellbares Leid erfahren, graust man sich im verwöhnten Deutschland, das zwecks Förderung des inländischen Wachstums und der daraus resultierenden Profite jahrzehntelang Rohstoffe auf höchst dubiose Weise billigst aus aller Welt bezogen hat, bereits vor der Vorstellung, die Wirtschaft des „Exportweltmeisters Deutschland“ werde einmal nicht wachsen. Und ein Gasembargo gegen Russland könnte übergangsweise gar zu einer Rezession von 2% oder etwas mehr führen, welch furchtbarer Gedanke! Da finanziert man doch lieber Putins Krieg weiter.
Karl Marx hat bemerkt, dass Religion „Opium des Volks“ ist; wie wahr, auch die Weltreligion Kapitalismus verwirrt die Sinne, das Denkvermögen und die Moral.