Die Frage, welches Musikstück oder welches Buch man mit auf die berühmte einsame Insel nehmen würde, ist unverwüstlich. Sie eröffnet dem Befragten die willkommene Möglichkeit, sein hohes Bildungsniveau zur Schau zu stellen, indem er Werke benennt, die normal Sterblichen weithin unbekannt sind. Auch Joachim Kaiser beantwortete die Insel-Frage noch schnell, bevor er sich in der Süddeutschen Zeitung vom 26.05.2009 dem „Unsinn der Einsamen Insel-Hypothese“ zuwandte. Und so erfuhr mancher Leser erstaunt zum ersten Male von der Existenz von Beethovens Razumovsky-Quartetten Opus 59.
Was besagten Unsinn angeht, wirft Kaiser zunächst die berechtigte Frage auf, ob man auf der einsamen Insel „überhaupt noch Musik hören möchte“, statt sich um die Erhaltung des Lebens zu kümmern. Tatsächlich wäre daran zu denken, den von ihm beispielhaft genannten Inselhit „Hyperion“ (Hölderlin) durch das „Survival-Lexikon“ oder zumindest einige sinnreiche Rohkost-Rezepte wie „Frische Ameisen an Blattsalaten der Saison“ zu ersetzen.
Überdies empfiehlt der große Rezensent, zu erwägen, „dass komplizierte, herbe, mühselig-umfängliche Werke in strenger Inseleinsamkeit wahrscheinlich durchaus hilfreicher sein dürften als kurze, wunderschöne, nur eben auch von rascher Abnutzung bedrohte….“ Hier macht sich bereits in der Wortwahl („wahrscheinlich durchaus… dürften“) eine bedenkliche Blässe des Gedankens bemerkbar, welche die Vielfalt denkbarer Inselumstände unberücksichtigt lässt. So hat der Autor etwa das Problem verkannt, dass man auf der Insel womöglich nicht isst, sondern gegessen wird. Wer in der inseleinsamen Gewalt eines Menschenfressers seine letzten Stunden zählt, wird den wunderschönen, kurzen Roman mit Happy-End fraglos einem schwierigen und umfänglichen philosophischen Werk vorziehen, zumal für dessen Lektüre die Zeit einfach nicht mehr reicht.
Den eigentlichen Unsinn der Insel-Frage entdeckt Joachim Kaiser jedoch in der „allenthalben dominierenden Superlativsucht“; mittlerweile gelte im Sport ein zweiter Platz geradezu als Niederlage, während beispielsweise bei Klavierwettbewerben eine exakte Bestimmung des „Ersten“ meist kaum möglich oder reine Geschmacksfrage sei. Doch in den Katalogen der Neuerscheinungen von Verlagen wimmele es geradezu von Superlativen, „und zwar groteskerweise sogar von logisch bedenklichen“: Denn Rezensenten, die sich nicht zu sehr exponieren wollten, bedienten sich einer „logisch unstatthaften Verbindung von Superlativ und Plural“, die Kaiser in Formulierungen wie „er gehört zu den größten Figuren seiner Generation“ entdeckt. Dabei genüge es doch wahrlich, zu sagen, „jemand sei eine der großen, bedeutenden ….Figuren seiner Zeit“.
Nun mag man Zweifel daran anmelden, ob die Insel-Frage und ihre Beantwortung tatsächlich dem Bereich der Sucht nach Superlativen angehören. Die Menschen sind außerordentlich verschieden. Was der Einzelne auf die einsame Insel mitnimmt, wird von seinen geistigen Anlagen, seiner Erziehung, den von ihm sonst erworbenen Fähigkeiten, generell von seinem – auch beruflichen – Werdegang, von seiner spirituellen Befähigung sowie von seinem Geschmack bestimmt. Persönliche Vorlieben und die entsprechende Auswahl bei fingierter Beschränkung der Mitnahmemöglichkeit gehören aber kaum in den genannten Suchtbereich.
Überdies unterschlägt uns der Autor, dass auch in Klavierwettbewerben von der Jury regelmäßig durch Kürung eines Siegers ein einsamer Superlativ gebildet wird. Schließlich können wir nicht nachvollziehen, was an der von ihm gerügten Vermählung von Superlativ und Plural logisch bedenklich oder gar unzulässig sein soll. Der Erste und der Zweite sind logisch unbedenklich nun einmal die Besten des Wettbewerbs, was gedanklich in keiner Weise ausschließt, dass einer von ihnen (noch) besser ist als der andere. Schließlich erreicht die gnädige Aufnahme des Zweiten, Dritten oder gar weiterer Personen in den Kreis der Besten doch letztlich just das, was Kaiser mit seinem Lösungsvorschlag erreichen will: Die Vermeidung inflatorischer Alleinstellungen, die tatsächlich eine Seuche unserer Zeit sind.
Obwohl die Frage unbeantwortet ist, ob Herr Kaiser diesen seinen Vorschlag auch auf sich selbst anwenden würde, sei unseren Lesern hier folgendes mitgeteilt: Herr Kaiser ist einer der bedeutenden deutschen Rezensenten seiner Generation, vor allem für die „klassische“ Musik. Und weil das so ist, sei seine als „möglich“ bezeichnete Antwort auf die Insel-Frage hier vollständig wiedergegeben: „Tristan“, „Figaro“, Matthäus-Passion“, Mozarts “Haydn“-Quartette, Beethovens Razumovsky-Quartette Opus 59, Schuberts „Winterreise“, Verdis „Requiem“, Brahms´ Violinkonzert, Beethovens „Hammerklaviersonate“, Goethes „Wahlverwandschaften“, Hölderlins „Hyperion“, Tolstois „Krieg und Frieden“ und Manns „Joseph“-Trilogie. Es gibt demnach viel zu tun, packen wir es entschlossen an.